Ullrich Hahn, Anmerkungen zur Friedensdenkschrift der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ Villingen, 14.01.2008
Der Schriftsteller Erich Kästner wunderte sich schon in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg darüber, dass man Generäle zu Abrüstungskonferenzen schicke. Das sei vergleichbar mit der Delegation von Metzgermeistern bei einer Tagung zur Förderung vegetarischer Lebensweise. Man könne dann schon vorher wissen, was dabei herauskommt.
Im Vorwort zur Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ betont Bischof Wolfgang Huber als Vorsitzender des Rates der EKD, dass diese einstimmig verabschiedet worden sei, sowohl vom Rat der EKD als auch von der Kammer für öffentliche Verantwortung, die diese Denkschrift erarbeitet habe. Es komme darin ein „stellvertretend für die ganze Gesellschaft formulierter Konsens zum Ausdruck“. Nun gehört zu den Mitgliedern der „Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD“ neben anderen namhaften Vertretern der deutschen Gesellschaft auch ein amtierender General der Bundeswehr [Gemeint ist Klaus Wittmann]. Der Rahmen für den Inhalt eines gefundenen Konsenses über den gerechten Frieden und die Wege dorthin ist damit schon durch die gewollte Zusammensetzung des Gremiums vorgegeben und dämpft die Erwartung an den Text.
Trotz ihrer in den Einzelheiten aktuellen Fragestellungen und Analysen steht die Denkschrift in der Tradition des konstantinischen Christentums, einer innigen Verbindung von Kirche und jeweiliger Staatsgewalt.
1. ARTIKEL 16 DES AUGSBURGER BEKENNTNISSES (CA 16)
Bezeichnend ist die positive Nennung von Artikel 16 des Augsburger Bekenntnisses von 1530, wonach „Christen ohne Sünde […] rechtmäßig Kriege führen, […] Übeltäter mit dem Schwert bestrafen […] können“ (100). Die Denkschrift betont zwar, dass das Adverb „rechtmäßig“ als Bedingung für die Kriegführung zu verstehen sei. Verschwiegen wird jedoch, dass es von 1530 bis heute nie einen Krieg unter deutscher Beteiligung gab, den eine deutsche evangelische Kirchenleitung als nicht rechtmäßig angesehen hatte. Zumindest in der Praxis führte Artikel 16 des Augsburger Bekenntnisses dazu, alle Kriege theologisch zu rechtfertigen ebenso wie alle anderen Ausdrucksformen der jeweiligen Staatsgewalt (Folter, Leibes- und Todesstrafen, Leibeigenschaft, Sklaverei, Vertreibung und Unterdrückung Andersdenkender bis hin zur Einrichtung von Konzentrationslagern) und deren Unrecht immer erst im Nachhinein einzuräumen, nicht als Licht, sondern als Schlusslicht der Welt.
Dazu passt auch der Hinweis auf Jesu Gleichnis vom Steuergroschen in Matthäus 22, 21, „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“ (44). Wenn im „und“ kein Widerspruch, sondern ein harmloses Neben- und Miteinander von Staats- und Gottesdienst gesehen wird, sind Christus und Caesar so friedlich vereint, wie Militär und gewaltfreie Konfliktlösung im weiteren Verlauf des Textes.
2. MILITÄR ALS INSTRUMENT AUF DAUER
Während noch in der ersten ausführlichen Friedensdenkschrift der EKD von 1981 das Militär im Rahmen der Abschreckungsdoktrin als zeitlich begrenzte Einrichtung verstanden wurde oder wenigstens verstanden werden konnte, ist diese zeitliche Bedingung jetzt entfallen: Im Rahmen einer internationalen Rechtsordnung gilt das Militär für die Kirche nicht mehr als ein Instrument zur Kriegsführung, sondern der dauerhaft notwen97 digen Durchsetzung des Rechts und Gewährung internationalen Rechtsschutzes. Die Kirche muss deshalb auch nicht mehr Kriege legitimieren (Abschnitt 46: Sie verzichtet „auf jede Form einer religiösen Legitimation von Kriegen“), sondern nur noch ‚humanitäre Interventionen‘ (110–123) im Rahmen einer „responsibility to protect“ (18), die zwar „militärischer Handlungsfähigkeit“ bedürfen (143), jedoch eher den Charakter polizeilicher Einsätze haben (145, 153).
Darauf baut dann auch das Selbstverständnis der Militärseelsorge, die „eine an Recht und Gesetz gebundene militärische Schutzaufgabe als im Grundsatz ethisch verantwortbar bejaht“ (66). Atomwaffen haben in einem solchen Konzept eigentlich keine Funktion mehr. Als eine von Bischof Huber in seiner Einleitung besonders hervorgehobene Neuerung stellt die Denkschrift deshalb fest: „Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden“ (162).
Es folgen dann aber verschiedene mögliche Interpretationen dieser Aussage (163, 164), die die Produktion und den Besitz solcher Waffen doch noch ermöglichen und deshalb wohl auch deren vorsorgliche Lagerung, z.B. in Büchel, friedensethisch nicht ausschließen.
3. RECHTSERHALTENDE GEWALT
Diese Neuinterpretation militärischer Existenz beruht auf einem Verständnis des Rechts, wonach dieses der Mittel der Gewalt und des Zwanges bedarf, um überhaupt als Recht erkennbar zu sein. Demnach sei „Recht […] auf Durchsetzbarkeit angelegt“ (98). Staatliche Gewalt sei „rechtserhaltende Gewalt“ (6, 68), eine Form der Gewalt, die nicht gemeint sei, wenn Kirche von „Überwindung der Gewalt“ spreche (54). Das staatliche Gewaltmonopol diene gerade der Eindämmung privater Gewalt (81) und habe deshalb die Funktion, „das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts zu ersetzen“ (82). So sei auch „der Schutz der Menschenrechte […] an die Existenz eines rechtsstaatlich kontrollierten Gewaltmonopols gebunden“ (89).
Dieses Rechtsverständnis ist zwar auch in der Rechtswissenschaft herrschend; es ist Grundlage jeder neuzeitlichen Staatsethik. Es beruht jedenfalls für die Kirche auf einem auch von der Denkschrift vertretenen Bild der sündhaften menschlichen Natur (38), die durch die Staatsgewalt und ihre strafende Funktion (71, 72, 106, 133, 169) im Zaum gehalten werden muss. Dagegen ist zu erinnern:
- Nur die unrechte Gewalt zu überwinden war immer auch das erklärte Ziel aller Tyrannen.
- Die Macht, Zwang und Gewalt einzusetzen, ist kein Zeichen für das Recht.
- Die so demonstrierte „Stärke des Rechts“ bleibt, solange sie auf überlegener Gewalt beruht, immer noch das „Recht des Stärkeren“.
Dieses Verständnis vom Recht bietet letztlich auch keinen Ausstieg aus der Spirale der Gewalt, da es eine ständige Aufrüstung (innerstaatlich der Polizei, außenpolitisch des Militärs) voraussetzt, um sicher zu stellen, dass das Gute tatsächlich die Oberhand behält. Wo sich aber der „Gerechte“ durch Gewalt durchsetzt, flieht das Recht aus dem Lager des Siegers. Die Ergebnisse der Befreiungskriege und der alltäglichen Strafjustiz geben im Großen und im Kleinen dafür hinreichend Anschauungsmaterial.
Dem gegenüber gab und gibt es ein Verständnis des Rechts, das der Macht gegenübertritt, ihr ohnmächtig widersteht, wie die alttestamentlichen Propheten im Angesicht der Könige und wie Jesus am Kreuz gegenüber dem römischen Imperium. Stark wird dieses Recht durch die Kraft der Überzeugung, durch die Zahl der Menschen, die sich aus eigener Einsicht daran halten und nicht aus Angst vor Strafe. Dem entspricht auch die Geschichte der Menschenrechte: diese wurden nie durch die Staatsgewalt verliehen, sondern – wo sie erfolgreich waren – durch langen Widerstand und viele Leiden errungen. Sie wurden von der Staatsgewalt letztlich auch nur anerkannt, indem diese sich zurücknahm. Wo die Staatsgewalt heute selbst für den Schutz der Menschenrechte einstehen soll, ist dies letztlich schleichend oder offensichtlich wiederum mit deren Verletzung verbunden („Rettungsfolter“, Luftsicherheitsgesetz und andere zum Schutz vor Straftätern und Terroristen eingeführte Befugnisse von Polizei und Militär).
4. MILITÄR UND GEWALT UND GEWALTFREIE KONFLIKTLÖSUNG
Wo Militär und Gewalt einen unabdingbaren Platz zur Aufrechterhaltung von Recht und Sicherung des Friedens erhalten haben, bleibt durchaus in dem so vorgegebenen Rahmen noch Spielraum für Methoden gewaltfreier Konfliktlösung und das Bemühen vieler Menschen um den Abbau und die Überwindung rechter Gewalt. Die Denkschrift räumt diesen Methoden durchaus auch „Vorrang“ ein (60, 124) und fordert ausführlich deren weiteren Ausbau (170–183).
Im Verhältnis zum Militär können diese Methoden aber keine Alternative bieten, sondern ergänzen dessen Möglichkeiten und sind zur Kooperation mit diesem aufgefordert: „Zwischen Soldaten und zivilen Kräften kommt es auf situationsangemessene Kooperation an“ (146), Nichtregierungsorganisationen und multinationale Truppen „müssen gut abgestimmt vorgehen“ (150). Es soll geklärt werden, „wie die je besonderen Kompetenzen der verschiedenen Akteure (zivile und militärische) zum Zuge kommen können“ (181).
Dass der bereit gehaltene militärische Knüppel im Hintergrund präsent gehalten wird („und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“), äußert die Denkschrift sehr deutlich in Bezug auf die weltweite Sicherung der Ressourcen: „Zugang zu strategischen Ressourcen ist nicht durch militärische Eingreifoptionen zu sichern. Vorrangig (nicht: stattdessen) ist Kooperation zwischen Förder-, Transit- und Verbraucherländern unter Einbezug der Wirtschaft.“ (28)
5. KEINE ETHIK DES GEWALTVERZICHTS
Auch wenn in der Denkschrift an mehreren Stellen Zweifel am eigenen Konzept der rechtmäßigen Gewalt aufschimmern („militärische Ohnmacht angesichts politischer Aufgaben einer dauerhaften Friedenssicherung“ [11], die innere Dynamik, die „jeder Gewaltanwendung – auch derjenigen, die ein Mittel zur Abwehr des Bösen sein will ..., innewohnt“ [38], die Wahrheit Christi, die sich „nicht mit Gewalt duchsetzt“ [47]), entwickelt sie nicht ansatzweise eine Ethik des Gewaltverzichts.
In einem Nebensatz wird eine solche Ethik verkürzt und in Negation erwähnt: „Auch wer nicht die Position des unbedingten Pazifismus vertritt – also bereit ist, in jeder denkbaren Situation auf die Anwendung potenziell tötender Gewalt zu verzichten ...“ (99). Die Kriegsdienstverweigerung wird genannt, unter der Bedingung einer entsprechenden Gewissensentscheidung geht sie auch der „staatsbürgerlichen Pflicht zum Militärdienst“ vor (62, 64), aber für die Denkschrift bleibt nur die Form der Gewissensentscheidung wesentlich, nicht jedoch ihr Inhalt, der keine Erwähnung findet. Verantwortungsethisch kann sich die Denkschrift eine Entscheidung zur KDV nur so vorstellen, dass diese anerkennt, „dass es Andere gibt, die im Dienst dieser Ordnung dafür sorgen, dass nicht Situationen eintreten, in denen das Recht ohne Durchsetzungskraft ist“ (61).
Die Denkschrift von 1981 hatte noch in Anlehnung an die Heidelberger Thesen von 1959 eine Ethik, ohne Rüstung zu leben, als eine „höchst reale Möglichkeit und Chance der Friedenspolitik“ angesprochen. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Wer aber trotzdem weiter so denkt und handeln will, wird zwar nicht von der Botschaft des alten und neuen Testamentes, aber von dieser Kirche, wie sie sich in der Denkschrift äußert, allein gelassen.