Erschienen in Ossietzky 3/2013

Umgelogen

Hartwig Hohnsbein

Als am 30. Januar 1933 Reichspräsident Paul von Hindenburg den Faschistenführer Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, jubelte die evangelische Kirche. In ihm, dem neuen Kanzler, sahen die Protestanten einen Gewährsmann dafür, daß endlich, endlich ihr jahrelanger Kirchenkampf in der »Weimarer Zeit« erfolgreich sein würde: Ihr Kampf gegen Demokratie und Pazifismus, gegen die »jüdisch-bolschewistische Gefahr«, gegen den »Versailler Schandvertrag« (gegen den am 10. Jahrestag der Vertragsunterzeichnung, am 28. Juni 1929, besondere Trauergottesdienste begangen wurden), gegen die »Fürstenenteignung«, gegen die moderne Malerei und Literatur, gegen die »sittliche Verwahrlosung«, die besonders an Ehescheidungen, Homosexualität, Verhütungsmitteln, Onanie ausgemacht wurde (s. hierzu Wolfram Wette: »Die Stellung des Protestantismus zum Krieg«, in: Wilhelm Deist u.a.: »Ursachen und Voraussetzungen des Zweiten Weltkrieges«). Nur eine winzige Minderheit in der evangelischen Kirche jubelte am 30. Januar 1933 nicht: Die »religiösen Sozialisten«, die lange Zeit ihren führenden Kopf in dem Mannheimer Pfarrer Erwin Eckert hatten, und einige Theologieprofessoren wie Emil Fuchs, Paul Tillich, Karl Barth und der damals gerade einmal 27jährige Privatdozent Dietrich Bonhoeffer. Zwei Tage nach der Machtübergabe an Hitler sprach Bonhoeffer in einem Berliner Rundfunksender über »die Wandlungen des Führerbegriffs«: »Führer und Amt, die sich selbst vergotten, spotten Gottes ...« – da wurde das Mikrophon abgedreht (s. Bonhoeffer-Biographie von Eberhard Bethge).

Der Kirchenkampf der Protestanten hatte im November 1918 begonnen, als ihnen ihre »gottgegebene Obrigkeit«, die Landesherren und der »heißgeliebte Kaiser«, der Summus episcopus, abhanden gekommen waren. In ihrem Kampf verbündeten sie sich mit der reaktionären DNVP, die die Wiederherstellung der Monarchie und die Rückgabe der ehemals deutschen Kolonien forderte, die »Dolchstoß-Legende« verbreitete und deren Presse auf die Ermordung von Matthias Erzberger durch Rechtsradikale 1921 mit »lautem Jubel« reagierte. 70 bis 80 Prozent der evangelischen Pfarrer teilten die Anschauungen der DNVP und verkündigten sie in ihrer pfarramtlichen Praxis. Das änderte sich erst, als die NSDAP seit 1930/31 an die Macht drängte: Jetzt sahen die protestantischen Kirchenführer, Pfarrer, Theologen und Gemeinden einmütig in Hitler den Heilsbringer, den es zu unterstützen, an die Macht zu bringen galt. Und das gelang bekanntlich auch. Spätestens seit der 1991 unter dem Titel »Hitlers Wähler« erschienenen gründlichen Untersuchung von Jürgen W. Falter ist belegt, daß in den Regionen mit überwiegend protestantischer Bevölkerung, zum Beispiel in norddeutschen Kleinstädten, die Hitler-Partei überproportional Wahlerfolge erringen konnte. Mit Friedrich-Martin Balzer gesprochen: »Der Protestantismus war ... aktiv an der Zerstörung der Weimarer Republik und der Errichtung und Stabilisierung der faschistischen Diktatur beteiligt«; und er war nach 1945 auch aktiv daran beteiligt, alles das vergessen zu machen, was er 1933 und davor angerichtet hatte (F.-M. Balzer: »Prüfet alles, das Gute behaltet«). Deshalb soll zum 80. Jahrestag der Machtübergabe an Hitler an charakteristische Worte aus der evangelischen Kirche dazu erinnert werden:

Die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, damals die bedeutendste Zeitung im evangelischen Deutschland, signalisierte Anfang 1932 den Schwenk der Kirche von der DNVP zur Nazi-Bewegung. Der lutherische Startheologe Paul Althaus legte dazu das Bekenntnis ab: »... Ich stelle mich ohne weiteres zu der nationalsozialistischen Bewegung, verteidigend, deckend, um Verständnis werbend.« Ganz ähnlich schrieb zur gleichen Zeit der nach 1945 sehr einflußreiche Hanns Lilje: »Es ist mit großer Bestimmtheit zu erwarten, daß der Nationalsozialismus noch im Laufe dieses Jahres ... in irgendeiner Form an der Regierung beteiligt wird. Die Frage, ob das wünschenswert ist, ist mit Ja zu beantworten.« (in: »Evangelische Wahrheit«, 1931/32) Als dann ein Jahr später sein frommer Wunsch erhört worden war, konnte die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung dankbar feststellen: »... Es war keine Revolution im alten Sinn, es war Reines, Größeres: Ein Volkserwachen zur Freiheit, ein Abschütteln von Sklavenketten, eine Volkserhebung in nie geahnter Weise. Das danken wir dem barmherzigen Gott und der zähen Entschlossenheit Adolf Hitlers.« Und an anderer Stelle: »... Aber bei aller Freude über die Wendung im Inneren dürfen wir keinen Tag vergessen, daß die außenpolitische Befreiung noch erkämpft werden muß.« Dazu versicherte der Vorstand des Verbandes der deutschen evangelischen Pfarrervereine im Deutschen Pfarrerblatt, daß die Pfarrerschaft »in bewußtem freudigen Anschluß an die Bewegung der nationalen Erneuerung auch dem neuen Reich in Treue dienen« werde. Und der Gottesstreiter Lilje, mannhaft wie Luther in Worms, verkündete in Junge Kirche: »Wir stehen dankbar und entschlossen hinter Hindenburg und Hitler als den Führern unseres Staates.« Ganz ähnlich freuten sich in jenen Tagen die Spitzenvertreter des Protestantismus, der lutherische Bischof Marahrens, der unierte Präsident Kapler und der reformierte Moderator Hesse, gemeinsam mit dem von Hitler vorgesehenen deutschchristlichen Reichsbischof Müller im »Loccumer Manifest« (Mai 1933): »Unser heißgeliebtes deutsches Vaterland hat durch Gottes Fügung eine gewaltige Erhebung erlebt. In dieser Wende der Geschichte hören wir als evangelische Christen im Glauben den Ruf Gottes ...« Und schon etwas früher bekundeten diese geistlichen Herren: »... Zu dieser Wende der Geschichte sprechen wir ein dankbares Ja. Gott hat sie uns geschenkt, ihm sei die Ehre ...« In den protestantischen Gemeindeblättern wird die Freude an der Wende zum Beispiel so beschrieben: »Der Führergedanke ist endlich wieder neu entdeckt. Millionen sprechen mit Ehrfurcht »Unser Führer!«, folgen dem Führer begeistert entschlossen mit Gehorsam ohne Vorbehalt. Die großen Verbände unterstellen sich ihm in bedingungslosem Vertrauen! Als deutsche Menschen erleben wir mit hoher Freude diese Wende.« (aus: Heimat-Glocken, Ev. Gemeindeblatt der Kirchengemeinde Wolfsburg) Und in einem in den evangelischen Gottesdiensten bald vielgesungenen Hymnus, den der hannoversche Oberlandeskirchenrat Mahrenholz dichtet und den er 1938 in das Hannoversche Gesangbuch (Nr. 521) aufnimmt, heißt es: »Den Führer schütze deine Macht!/ Er, der für unsre Wohlfahrt wacht,/ ist uns von dir gegeben./ Du, der in ihm so viel uns gibt,/ schenk ihm, der sein Volk treulich liebt,/ ein reiches, langes Leben! ...«

Zwölf Jahre später, im Oktober 1945, überreichte die evangelische Kirche Vertretern der Ökumene die vielgenannte »Stuttgarter Schulderklärung«. Sie bewirkte, daß der deutsche Protestantismus wieder in die Gemeinschaft der Weltkirchen aufgenommen wurde. Verfasser der Erklärung war Otto Dibelius, der sich gerade selbst zum Bischof von Berlin-Brandenburg gemacht hatte und der neuen christlichen Partei, der CDU, beigetreten war. Otto Dibelius: Dieser damals fünfundsechzigjährige Theologe hatte bereits eine erste große Karriere von 1919 bis 1933 hinter sich und eine noch viel größere ab 1949 vor sich. 1919 hatte er sich der DNVP angeschlossen, 1925 wurde er Generalsuperintendent der Kurmark. Sein Credo teilte er im Osterbrief 1928 seinen Pfarrern mit: »Für die letzten Motive, aus denen die völkische Bewegung hervorgegangen ist, werden wir alle ... volle Sympathie haben. Ich habe mich ... immer als Antisemiten gewußt.« (zit. nach Artikel zu Dibelius in: Ernst Klee: »Das Personallexikon zum Dritten Reich«, 2003) 1933 hatte er nach der für die Nazi-Partei erfolgreichen Märzwahl seinen Pfarrern geschrieben: »Jetzt sind Macht und Masse wieder bei denen, die die Kirche bejahen und zu denen sich die treuen Besucher der Kirche in ihrer Mehrheit politisch bekennen ... Es werden unter uns nur wenige sein, die sich dieser Wendung nicht von ganzem Herzen freuen.« (Klaus Schönhoven: »Deutsche Christen und Bekennende Kirche« in: Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte, 12/1998) Den neuen Machthabern und ihren schon verübten Gewalttaten gab er am 21. März in seiner Predigt in der Potsdamer Nikolaikirche den kirchlichen Segen: »Ein neuer Anfang staatlicher Geschichte steht immer irgendwie im Zeichen der Gewalt ... Und wenn es um Leben und um Sterben der Nation geht, dann muß die staatliche Macht kraftvoll und durchgreifend eingesetzt werden, sei es nach außen oder nach innen.« (Klaus Scheel: »Der Tag von Potsdam«) Als dann einige Tage später nach dem Boykott der Nazis gegen jüdische Geschäfte (am 1. April) kritische Berichte im Ausland dazu bekannt wurden, bekundete der alte Antisemit Dibelius viel Verständnis für die neue Regierung: »Das Ergebnis dieser ganzen Vorgänge wird ohne Zweifel eine Zurückdämmung des jüdischen Einflusses im öffentlichen Leben Deutschlands sein. Dagegen wird niemand im Ernst etwas einwenden können.« (www.reimbibel.de/Kirche-im-Dritten-Reich.htm)

1949 wurde Dibelius nach dem eingefleischten Antisemiten Theophil Wurm, der sich bis dahin als erster Ratsvorsitzender liebevoll für die NS-Kriegsverbrecher eingesetzt und die Entnazifizierung bekämpft hatte, zweiter Ratsvorsitzender, der nun die Politik seines Parteifreundes Adenauer gemeinsam mit seinem Stellvertreter Hanns Lilje im deutschen Protestantismus umsetzte. Sein Engagement galt im erneuten Kampf gegen den »altbösen Feind«, den »Bolschewismus«, der Wiederbewaffnung Westdeutschlands, notfalls auch dem Einsatz von Atombomben. Dazu legte er 1954 auf der 2. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Evanston (USA) folgendes Bekenntnis ab: »... Die Anwendung einer Wasserstoffbombe ist vom christlichen Standpunkt aus nicht einmal eine so schreckliche Sache, da wir alle dem ewigen Leben zustreben. Und wenn zum Beispiel eine einzelne Wasserstoffbombe eine Millionen Menschen töte, so erreichen die Betroffenen um so schneller das ewige Leben.« (Das Dibelius-Wort findet sich in dem Artikel »Die Irrtümer des Bischofs Dibelius/Offene Antwort auf einen Brief des NATO-Seelsorgers an die Junge Welt« in: Junge Welt vom 13. März 1958.) Dieser Otto Dibelius also hatte die »Stuttgarter Schulderklärung« entworfen, in die Martin Niemöller noch einen Satz einfügen konnte. In ihr stehen »die kirchenhistorische Wahrheit, Halbwahrheit und Unwahrheit dicht nebeneinander«, wie der Kirchenhistoriker Hans Prolingheuer zu Recht feststellt (Prolingheuer: »Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz«). Wahr ist der von Niemöller eingefügte Satz: »Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden«; dreist gelogen in der Dibelius-Rückschau, die auf die Haltung der Kirche in der Weimarer Zeit zu beziehen ist: »Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat ...« So ist die Geschichte der evangelischen Kirche nach 1918 und ihr Jubel zur Machtübergabe an Hitler umgelogen worden und deshalb bis heute, 80 Jahre danach, im Kirchenvolk immer noch fast unbekannt.

Erschienen in Ossietzky 3/2013