DER SPIEGEL - 15.11.1993 - Militärseelsorge
Ostdeutsche Protestanten wollen ein Abkommen zwischen Staat und Kirche aus der Zeit des Kalten Krieges kippen - den Militärseelsorgevertrag.
Bei einem Einsatz des Alpha-Jet-Geschwaders der Bundeswehr während des Golfkrieges traf Militärpfarrer Manfred Kahl einen jungen Gefreiten.
Der Mann, berichtete Kahl, sei "in fast schon verwirrtem Zustand" gewesen. In einem drei Stunden dauernden Gespräch, so der Kleriker stolz, sei es ihm gelungen, den Soldaten "aufzuschließen" und so weit hinzukriegen, daß er seinen Dienst wiederaufnahm.
Der Pfarrer als Fitmacher und Aufbauhelfer für die Kampfmoral der Truppe. So versteht das Bonner Verteidigungsministerium den Sinn der vom Staat finanzierten Militärseelsorge der beiden Großkirchen, und viele Bundeswehr-Geistliche wirken als treue Handlanger der Obrigkeit.
Jahrzehnte war der Militärseelsorgevertrag in den Kirchen kein großes Thema. Doch seit der Wiedervereinigung wächst zumindest in der evangelischen Kirche der Widerstand gegen den wehrhaften Filz: Die Landeskirchen aus der ehemaligen DDR weigern sich beharrlich, den zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Bonner Regierung geschlossenen Militärseelsorgevertrag zu übernehmen. Sie fordern bei der Landesverteidigung die radikale Trennung von Kirche und Staat.
Der Militärseelsorgevertrag stammt aus der Hoch-Zeit des Kalten Krieges. Kanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß brauchten damals _(* Im Kampfpanzer Leopard 2 bei einem ) _(Truppenbesuch. ) die Kirche für die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik und fanden in dem ersten Militärbischof Hermann Kunst einen willigen Partner.
Weder Kunst noch der EKD-Rat stießen sich daran, daß die dem Staat untertane Militärseelsorge seit Kaisers Zeiten sich selbst demontiert hatte.
Für die Soldaten des Ersten Weltkrieges reimte 1914 ein Militärpfarrer: "Nun deutsche Fahnen flattert, nun deutsche Schüsse knattert, und trefft den Feind ins falsche Herz, nun bete jeder deutsche Christ, daß Gottes Segen mit uns ist." Und der spätere Bischof Otto Dibelius verkündete 1930 die frohe Botschaft, ein Soldat "steht im Dienste seines Gottes, wenn er für das Vaterland kämpft".
Die EKD-Synode, das Kirchenparlament, stimmte 1957 dem bereits unterzeichneten Vertrag murrend zu. Vergangene Woche, auf der Herbstsynode der EKD in Osnabrück, gab es wieder Zoff. Angeführt von ostdeutschen Protestanten wie dem Erfurter Propst Heino Falcke, verlangten zahlreiche Synodale, das unzeitgemäße Vertragswerk endlich zu kippen.
Auf Ablehnung der Kritiker stößt vor allem der Status der Militärseelsorger. Die Militärpfarrer sind Staatsbeamte und dem "Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr" unterstellt. Oberster Dienstherr: Verteidigungsminister Volker Rühe.
Die rund 230 Militärgeistlichen beider Kirchen sind in Kluft und Auftreten kaum von den Soldaten zu unterscheiden: Bei Manövern fahren sie in grünen Dienstwagen, die Truppe begleiten sie zum Einsatz, etwa in Somalia oder Kambodscha, in uniformgleicher "Schutzkleidung". Selbst zum Feldgottesdienst treten sie schon mal in Uniform an. Um bei den Soldaten anzukommen, so ein Militärgeistlicher, müsse man eben "so riechen, so schmecken, so aussehen wie sie". Die Militärpfarrer haben als Chef einen Militärbischof und sind nicht mehr an Weisungen ihrer Landeskirche oder etwa friedenspolitische Beschlüsse der Synode gebunden. In ihrer Arbeitszeit erteilen sie den Soldaten "Lebenskundlichen Unterricht". Der ist ihnen per Dienstanweisung vom Verteidigungsministerium vorgeschrieben.
Sie sollen, so heißt es in der Anweisung, "die Gemeinschaft" als "verteidigenswert" darstellen und die Soldaten "Selbstzucht" lehren. Zum Lebenskunde-Thema "Angst" im Juni letzten Jahres formulierte das evangelische Kirchenamt in diesem Sinne forsch: "Tapferkeit erwächst aus Angst."
Praktisch, klagt Propst Falcke, früher einer der Wortführer der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR, existiere in der Bundesrepublik "eine Art Militärkirche, die ihr Eigenleben führt". Die in der Verfassung vorgegebene Trennung von Staat und Kirche, so Falcke, sei "ausgerechnet an einem der sensibelsten Punkte gefährdet".
Bonn alimentiert die Militärseelsorge jährlich mit insgesamt 48 Millionen Mark, 30 Millionen gibt die Kirche dazu. Der finanzielle Kuddelmuddel erzeugt nach Ansicht des Synodalen Axel Noack aus Merseburg "eine nur schwer durchschaubare Vermischung von staatlichen und kirchlichen Zuständigkeiten".
Außerdem, so die Kritiker, stimmten die Proportionen nicht. Für die Friedensarbeit gebe die Kirche nur ein Zehntel der Summe aus, die sie für die Betreuung der Militärs verpulvert - jährlich knapp drei Millionen Mark.
Die vom Staat spendierten Millionen, argwöhnt Ulrich Töpfer vom thüringischen Landesjugendpfarramt, sollten doch bloß "staatliche Militärpolitik durch die Kirchen absegnen helfen".
Ein Musterfall für die Unvereinbarkeit der kirchlichen Verkündigung und der Bonner Interessen könnte nach Töpfers Ansicht schon bald der Einsatz der Bundeswehr außerhalb der Nato werden. Da sieht er "die Freiheit der Verkündigung eingeschränkt, denn laut den verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr können solche Einsätze auch zur Sicherung von Rohstoffquellen und der Handelswege dienen. Und das können die Kirchen wohl kaum mittragen und legitimieren".
Militärpfarrer waren bisher schon bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr dabei - nicht nur im Militärhospital in Kambodscha, sondern auch während des Golfkrieges an der Grenze zum Irak und derzeit in Somalia. Nur einmal hat einer den Dienst verweigert - ein katholischer Bundeswehrgeistlicher, Wolfgang Schuhmacher aus Saarlouis, sperrte sich gegen den Somalia-Trip, wegen des "ungeklärten rechtlichen und politischen Einsatzes der Bundeswehr".
Doch gerade die Katholiken halten ansonsten stramm den Bonner Kurs: Anders als die Evangelischen hat der katholische Militärbischof Johannes Dyba, zugleich Vorsteher der Diözese Fulda, gleich nach der Vereinigung mehrere Dutzend Kleriker in die ostdeutschen Kasernen entsandt.
Dybas Vorpreschen brachte die Protestanten in Zugzwang: Auch eine Handvoll evangelischer Pfarrer im Osten schiebt inzwischen Dienst an Soldaten. Die Geistlichen erproben ein staatsfernes Alternativmodell: Sie werden allein von der Kirche bezahlt und bleiben eingebunden in ihre Landeskirche. Die Ost-Bischöfe wollen dieses Modell weiterentwickeln, doch mangelt es ihnen an Geld.
Die Bundeswehr behindert die zivilen Soldatenpfarrer, indem sie ihren Zugang zu den Kasernen durch allerhand Vorschriften einschränkt. Druck macht zudem eine Lobby aus Kirche und Verteidigungsministerium. 63 000 Soldaten forderten in einer von Offizieren organisierten "Aktion Pro Militärseelsorge" den Erhalt des Militärseelsorgevertrages, eine Gruppe "Christliche Soldaten in Uniform" wirbt in den Ost-Kirchen für die alten Strukturen.
Mangels Geldes und Erfahrung, so das Kalkül, werde sich das Ost-Experiment von allein totlaufen. In einem internen Bericht an den Generalinspekteur der Bundeswehr empfehlen die Standortkommandeure Ost: "Daher sollte man sich Zeit lassen."
Zeit gewinnen will auch die EKD. Die Synode schob letzte Woche die Entscheidung über eine Kündigung des Militärseelsorgevertrags erst einmal ins nächste Jahr, weil Gegnern wie Befürwortern die Mehrheitsverhältnisse in dem Gremium unklar schienen.
Außer den acht östlichen sind auch vier westdeutsche Landeskirchen - Bremen, Hessen-Nassau, Rheinland und Schaumburg-Lippe - inzwischen für eine Änderung der Verhältnisse. Nur noch zwei - Bayern und die Nordelbische Kirche - haben sich ausdrücklich für Beibehaltung der bisherigen Praxis ausgesprochen.
Eine Endlosdebatte über das Thema dürfte vor allem den Ost-Kirchen Verdruß bringen.
In Thüringen, Sachsen und Mecklenburg haben sich bereits kirchliche Mitarbeiter, darunter auch Pfarrer, zusammengetan, die bei einer Übernahme des Militärseelsorgevertrages ihren Dienst "aus Glaubens- und Gewissensgründen" aufgeben wollen. Y
Eine Lobby aus Kirche und Bundeswehr macht Druck