Soziale Verteidigung und Gewaltfreier Aufstand Reloaded - Neue Einblicke in zivilen Widerstand
von Christine Schweitzer, Bund für Soziale Verteidigung, Hintergrund- und Diskussionspapier Nr. 41/ Februar 2015, ISSN 1439-2011, Herausgeber: Bund für Soziale Verteidigung e.V., Schwarzer Weg 8, 32423 Minden (Es ist die zweite, erweiterte Auflage des Hintergrund- und Diskussionspapieres Nr. 35, August 2013) 30 Seiten, Din A4, 3,- €, hier als pdf-Dokument
Inhalt
1. Einleitung
2. Ziviler und gewaltsamer Widerstand
2.1 Ziviler Widerstand
Exkurs: Gene Sharps Theorie der Macht
2.2 Bedingungen und Formen gewaltloser und gewaltsamer Aufstände
2.3 Übergänge von gewaltsamem zu gewaltlosem Widerstand
3. Faktoren für Mobilisierung und Erfolg zivilen Widerstands
4. Umgang mit Repression
Exkurs: Die Rolle der Schutzbegleitung
5. Widerstand gegen Krieg – Zonen des Friedens schaffen
6. Die Rolle der Gewaltlosigkeit
7. Die Rolle internationaler Unterstützung zivilen Widerstands
Exkurs: Der Sturz von Milosevic in Serbien
8. Bewertung
Literatur
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1. Einleitung
Wenn wir in den 1970er oder 1980er Jahren gegen die Abschreckungspolitik und die Gefahr eines 3. Weltkriegs protestierten, dann wurden wir, genauso wie heute, nach unseren Alternativen gefragt. Zu den sicherheitspolitischen Alternativen gehörte die Idee der Sozialen Verteidigung, die erstmalig in den 1930er Jahren in den Niederlanden durch den Antimilitaristen Bart de Ligt als „gewaltfreie Volksverteidigung“ formuliert worden und wie so vieles andere durch die Arbeit und Schriften von Gandhi inspiriert war. Zwischen den 1950er und 1970er Jahren wurde Soziale Verteidigung dann zu einem bis ins Detail durchdachten Konzept weiterentwickelt. 1 Sie wurde verstanden als ein Konzept gewaltfreien Widerstands in Fällen eines militärischen Angriffs von außen oder eines Staatsstreich, vorbereitet durch die Regierung, die zuvor beschlossen hat, radikal abzurüsten, und eingeübt von der Bevölkerung. Soziale Verteidigung basiert auf dem Grundgedanken, nicht ein Territorium bzw. die Landesgrenzen zu verteidigen, sondern einen Aggressor dadurch scheitern zu lassen, dass die Bevölkerung ihm den Gehorsam verweigert. Das dahinter stehende Szenario war das eines Angriffs des Warschauer Pakts auf Westeuropa mit dem Ziel, Westeuropa dem sozialistischen Block einzugliedern. Es war der deutsche Friedensforscher Theodor Ebert, der in den 1980er Jahren hinzufügen begann, dass der erste Testfall für Soziale Verteidigung eintreten könnte, wenn eine deutsche Regierung eine radikale politische Wende hin zu vollständiger Abrüstung und einer ökologisch nachhaltigen Politik vollziehen würde, denn dann bestehe auch die Gefahr eines Putsches durch Kreise, die diese Wende nicht wollten. GraswurzelaktivistInnen in der gleichen Zeit begannen infrage zu stellen, ob die Vorstellung einer „Einführung von Sozialer Verteidigung“ durch eine Regierung“ realistisch sei, oder ob eine solche Wende nicht von unten durch gewaltfreien Widerstand erkämpft werden müsse.2 Wenn wir Soziale Verteidigung bekannt zu machen versuchten, dann argumentierten wir stets mit Beispielen gewaltlosen Widerstands aus der Geschichte, obwohl manche AutorInnen betonten, dass es sich streng genommen nicht um Beispiele für Soziale Verteidigung handele, weil es sich nicht um langfristig geplante und von der Regierung eingeführte Fälle von Widerstand handelte. Zu diesen Beispielen, die sich in praktisch allen Publikationen aus jener Zeit finden3, gehörten:
Der Kapp-Putsch 1920, bei dem Reichswehroffiziere gegen die Regierung der jungen Weimarer Republik putschten. Der Putsch sollte den Gründer der Vaterlandspartei, Wolfgang Kapp, an die Macht bringen. Auslöser war die Absicht der Regierung, gemäß den Vorgaben des Versailler Vertrags die Reichswehr drastisch zu verkleinern und die sog. Freikorps aufzulösen, in denen sich ehemalige Soldaten organisiert hatten. Der Putsch scheiterte aber nach fünf Tagen, vor allem weil ein Generalstreik das öffentliche Leben lahmlegte, zumal auch der Deutsche Beamtenbund sich ihm anschloss.
Der Ruhrkampf 1923 war ein vorrangig mit zivilen Mitteln geführter Protest im Ruhrgebiet, als französische und belgische Truppen 1923 die Region besetzten, um Reparationen in Form von Kohle Stahl einzuziehen, nachdem Deutschland seinen Zahlungen, zu denen es im Versailler Vertrag verpflichtet worden war, nicht nachkam. Die Reichsregierung rief die Bevölkerung zu „passivem Widerstand“ (Streik) auf. Nach knapp neun Monaten wurde der Widerstand abgebrochen; es folgten aber Verhandlungen, die zum Rückzug Frankreichs und Belgiens führten.
Das große internationale Vorbild ist natürlich die indische Unabhängigkeitsbewegung unter Gandhi, der 1915 nach seiner Zeit in Südafrika, in der er erste Erfahrungen mit
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1 Eine wichtige Rolle dabei spielten: Stephen King-Hall, Gene Sharp, dessen Werke schon früh ins Deutsche übersetzt wurden, Anders Boserup & Andrew Mack, April Carter, Adam Roberts, und aus dem deutschen Sprachraum Theodor Ebert und Gernot Jochheim, um nur einige zu nennen.
2 Siehe die Sondernummer der Graswurzelrevolution von 1985 und die Kongressmaterialien des Bundeskongresses „Wege zur Sozialen Verteidigung“, der 1988 in Minden stattfand.
3 Siehe die Literaturliste am Ende dieses Aufsatzes.
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zivilem Ungehorsam sammelte, schnell zu einer führenden Position in der indischen Unabhängigkeitsbewegung kam. Der Kampf dauerte über 30 Jahre; erst nach dem 2. Weltkrieg wurde Indien 1947 unabhängig.
Der Widerstand in Dänemark und Norwegen während des 2. Weltkriegs: In Dänemark halfen couragierte BürgerInnen 1943 Juden zur Flucht nach Schweden, als sie in Konzentrationslager deportiert werden sollten, und retteten damit 7.000 der 8.000 dänischen Juden das Leben. In Norwegen weigerten sich LehrerInnen, die von ihrer mit den Nazis kollaborierenden Regierung unter Quisling angeordneten Nazifizierung der Schulen Folge zu leisten. Eintausend wurden vorübergehend inhaftiert, kamen aber wieder frei.
Prag 1968: Ein Versuch der vorsichtigen Demokratisierung im sog. „Prager Frühling“ von 1968 endete am 21. August d.J. mit dem Einmarsch von Truppen der anderen Länder des Warschauer Pakts. Die Reformregierung und Dubcek verzichtete auf militärischen Widerstand; die Bevölkerung der CSSR wehrte sich aber durch vielfältige Aktionen zivilen Widerstands gegen die Invasoren. Vereinzelt kam es auch zu Gewaltakten; trotzdem gelten die ca. fünf Tage des Widerstands aber als beeindruckendes Beispiel spontanen gewaltfreien Widerstands. Dubcek und seine Kollegen wurden nach Moskau gebracht, wo sie nach wenigen Tagen den sowjetischen Forderungen nachgaben.
Mit den Umbrüchen 1989 verschwand in Westeuropa die Angst vor einem militärischen Angriff – und damit allerdings auch das Interesse an Sozialer Verteidigung und die Notwendigkeit, sie in friedenspolitischen Debatten als Alternative in den Vordergrund zu stellen. Die letzte Veranstaltung des Bund für Soziale Verteidigung zu dem Thema fand 2005 statt.4 Die FriedensforscherInnen, die sich zuvor mit Sozialer Verteidigung beschäftigt hatten, wandten sich in ihrer Mehrheit den Themen gewaltloser Aufstände oder gewaltlosen Formen der Intervention in Konflikte anderenorts zu.5 In den letzten zehn Jahren sind jetzt mehrere Publikationen erschienen, die sich dem Thema gewaltloser Aufstände und zivilem Widerstands auf einer empirischen, vergleichenden Basis nähern und versuchen, die Faktoren und Bedingungen herauszuarbeiten, die zu Erfolg (oder Versagen) solchen Widerstands beitragen. Zu den wichtigsten Arbeiten gehören die von Ackerman & Duvall 2001, Schock (2005), Clark (Hrsg) 2009, Chenoweth & Stephan 2011, Roberts & Ash (Hrsg.) 2011, Nepstad 2011, Carter 2012 und Bartkowski 2013: Peter Ackerman und Jack Duvall stellen in ihrem Buch „A Force More Powerful“6 Beispiele von ‚Volksbewegungen‘, wie sie es nennen, aus den letzten 100 Jahren dar. Die Liste reicht von einem Streik in Russland 1905 bis zu den Demokratisierungsbewegungen in Osteuropa, China und der Mongolei Ende des letzten Jahrhunderts. Kurt Schocks Interesse gilt in erster Linie der Entwicklung und dem Verlauf von ‚people power‘ Bewegungen. Seine Beispiele umfassen Südafrika, die Philippinen, Burma, China, Nepal und Thailand. Das von Adam Roberts und Timothy Garton Ash herausgegebene Werk „Civil Resistance and Power Politics“ sammelte „Erfahrungen gewaltfreier Aktion von Gandhi bis zur Gegenwart“ (so der Untertitel) mit 19 Fallbeispielen zivilen Widerstands. Das Buch enthält auch ein Kapitel von April Carter über die bisherige Literatur zum Thema. Ähnlich angelegt ist das von Marceij J. Bartkowski herausgegebene Buch „Recovering Nonviolent History – Civil Resistance in Liberation Struggles“, wobei es anders als die zuvor erwähnten Werke auch Aufsätze über etliche weniger bekannte Aufstände enthält – Ghana, Sambia, Mosambique, West-Papua, USA, Kuba,
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4 Siehe Müller & Schweitzer (Hrsg.) 2006.
5 Zu den ersten gehören u.a. Adam Roberts, April Carter und Gene Sharp; zu den zweiten Theodor Ebert, Robert Burrowes, Barbara Müller und auch der BSV. Das von Gene Sharp gegründete Institut, die „Albert Einstein Institution“, spielt eine große Rolle bei Trainings und der Vorbereitung von gewaltlosen Aufständen, ebenso wie die aus der serbischen Widerstandsbewegung Otpor herausgegründete Centre for Applied NonViolent Action & Strategies (CANVAS) und das International Center for Nonviolent Conflict (ICNC). Unter Anwendung in erster Linie der Lehren von Gene Sharp beraten sie Bewegungen in aller Welt in der Anwendung gewaltloser Aktion.
6 Es gibt auch eine DVD mit demselben Titel.
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und dabei bis in 18. Jahrhundert zurückgeht. Der Band von Howard Clark mit dem Titel „People Power. Unarmed Resistance and Global Solidarity“ ist eine Zusammenstellung von Vorträgen, die auf einer Konferenz in Coventry im Jahr 2006 zum Thema „Unbewaffneter Widerstand - der transnationale Faktor“ gehalten wurden; die meisten sind ebenfalls Fallbeispiele. Sharon Erickson Nepstad vergleicht in ihrem Buch „Nonviolent Revolutions“ sechs Beispielfälle (China, DDR, Panama, Chile, Kenia und die Philippinen) und zieht aus ihnen Folgerungen in Bezug auf die Wirkungsweisen zivilen Widerstands. Von etwas anderem Charakter ist das Buch von April Carter „People Power and Political Change“. Die Autorin, die sich seit Jahrzehnten mit Sozialer Verteidigung und gewaltfreier Aktion beschäftigt, befasst sich in ihrer Studie nicht mit Beispielen, sondern mit den zentralen Konzepten und Debatten, die sich um das Thema ranken, wobei sie auch bewaffneten und unbewaffneten Kampf vergleicht. Das wohl derzeit am häufigsten zitierte Werk ist das von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan, „Why Civil Resistance Works“, das als erster auf der Basis quantitativer Analyse und dem Anlegen einer Datenbank Fälle zivilen und gewaltsamen Widerstands miteinander vergleicht. Beispiele gewaltloser Aufstände gibt es in großer Anzahl – Chenoweth und Stephan (2011) z.B. zählten 107 im Zeitraum zwischen 1900 und 2006. Seit den 1970er Jahren hat die Zahl solcher Aufstände gegen totalitäre oder korrupte Regimes stark zugenommen, beginnend mit den Umstürzen in Griechenland (1974), Spanien (1975), Portugal (1976), Iran (1977-79) und den Philippinen (1986).7 In den späten 1980er Jahren kam dann der Umbruch in Osteuropa, mit dem Aufstand in der DDR und den anderen osteuropäischen Ländern und kurz danach den „singenden Revolutionen“ in den drei baltischen Ländern, die sich von Russland abspalteten. In den 2000er Jahren waren vor allem die Aufstände in Serbien 2000 und einigen post-sowjetischen Ländern (Georgien 2003, Ukraine 2004, Kirgisien 2005) bemerkenswert.
2011 erreichte die Welle den arabischen Raum, und auch in den letzten beiden Jahren gab es mehrere neue Aufstände, z.B. in der Türkei 2013, der Ukraine 2013-14 und Hongkong 2014. Auch die Massenproteste in Mexiko im Herbst 2014 nahmen teilweise schon aufstandsartige Züge an. Allerdings variieren die Zahlen solcher Aufstände je nachdem, was man erfassen will. Chenoweth und Stephan (2011) unterscheiden drei Typen zivilen Widerstands: Regime-Change, Widerstand gegen Besatzung und Sezessionskonflikte. Die Zahl von Fällen zivilen Widerstands wird aber natürlich wesentlich größer, wenn man jene mit hinzunimmt, bei denen das Hauptziel nicht eines der drei genannten Ziele ist, sondern Dinge wie den Stopp von Bauvorhaben oder der Nutzung bestimmter Technologien (Atomkraft, fracking), Anti-Korruption und Behördenwillkür usw. mit einbezieht. Und es gilt auch, nicht zu übersehen, dass manche Aufstände mit begrenzten Anliegen (z.B. dem Schutz eines Parks in Istanbul) begannen und im Laufe der Auseinandersetzung immer mehr beginnen, die Regierung grundsätzlich infrage zu stellen.
Neben solchen Untersuchungen über Aufstände ebenfalls bemerkenswert ist eine jüngst erschienene, allerdings auf in der ersten Hälfte der 2000 gesammelte Daten zurückgehende Studie aus dem Institut von Mary B. Anderson (bekannt durch das „Do no Harm“- Konzept). In dieser auf der Basis von 13 Fallstudien entwickelten Arbeit geht es um Dörfer oder ganze Regionen, die sich erfolgreich aus einem sie umgebenden Krieg herausgehalten haben, indem sie mit den Kombattanten einen Status als Unbeteiligte aushandelten und verschiedene Strategien entwickelten, sich (und in manchen Fällen auch bedrohte Nachbarn) im Falle von Besetzung oder durchziehenden bewaffneten Trupps zu schützen.8
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7 Samuel Huntington nannte dies die „dritte Welle der Demokratisierung“ (s. Carter 2012). Carter spricht von einer vierten Welle nach der Jahrhundertwende in den ehemals sowjetischen Ländern und 2010er Jahren im arabisch-nordafrikanischem Raum.
8 Anderson & Wallace 2013.
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Die neueste Studie, die hier vorgestellt werden soll, ist die von Véronique Dudouet vom Berghof-Institut 2014. Sie befasst sich mit Fällen, in denen gewaltsame Bewegungen einen Strategiewechsel zu gewaltlosem9 Widerstand vollzogen. Diese Literaturauswahl ist nicht erschöpfend – es gibt eine Reihe weiterer wichtiger Publikationen zum Thema Gewaltfreiheit aus den letzten Jahren.10 In der Zusammenstellung hier geht es vor allem darum, wegweisende Literatur aus dem englischen Sprachraum, die aufgrund der Sprachbarriere vielleicht nicht jedem zugänglich sind, einer deutschen LeserInnenschaft vorzustellen.
Interessant dabei ist, dass diese neuen Untersuchungen in vielen Fällen das bestätigen, das schon in früheren Publikationen zu Sozialer Verteidigung, basierend auf der kleinen Anzahl von Fallbeispielen, vermutet und empfohlen wurde. In ein paar anderen Punkten gehen die neuen Studien deutlich über das hinaus und tragen, wie in den Abschnitten 6-8 dargestellt, neue Erkenntnisse darüber bei, wie gewaltloser oder ziviler Widerstand „funktionieren“. Sie führen auch zu einer Neubewertung der Diskussion zwischen „pragmatischer“ Gewaltlosigkeit und „prinzipieller“ Gewaltfreiheit, einer Debatte, die seit Jahrzehnten die ProtagonistInnen gewaltfreier / gewaltloser Aktion in zwei Lager teilt. Der „pragmatische“ Ansatz betrachtet Gewaltlosigkeit schlicht als „eine generelle Technik der Ausübung von Protest, Widerstand und Intervention ohne physische Gewalt“.11 In dieser Auffassung gehört „gewaltfreier Zwang“ zu den Möglichkeiten gewaltfreier Aktion, sofern es nicht gelingt, den Gegner zu überzeugen. Der Altmeister der Theorie der gewaltfreien Aktion, Gene Sharp, unterschied (1973) gewaltfreien Protest und Überzeugung, Nichtzusammenarbeit (soziale, ökonomisch, politisch) und gewaltfreie Intervention. (Die bei ihm das direkte Eingreifen in Institutionen bedeutet, nicht das heute eher übliche ‚Eingreifen in Konflikte anderenorts‘.) Sie können einen Gegner überzeugen, ihn dazu bringen, nachzugeben, um Schlimmeres zu verhüten, ihn zwingen, nachzugeben oder im Extremfall zur Desintegration des ganzen Systems führen.
Heute ist der pragmatische Ansatz neben dem Namen von Gene Sharp und seinem Albert Einstein Institut 12 vor allem mit dem von Peter Ackerman gegründeten International Center for Nonviolent Conflict (ICNC) verbunden13, das Bewegungen in aller Welt in der Anwendung gewaltfreier Aktion berät. Hinzu kommt das Belgrader Centre for Applied NonViolent Action & Strategies (CANVAS)14, das von Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung Otpor in Serbien gegründet wurde.
Demgegenüber begreift der „prinzipielle“ Ansatz Gewaltfreiheit als Lebensprinzip und beschränkt sie nicht auf taktisches Handeln in einem Aktionskontext. Ihm geht es um das „Sein“, nicht nur um das „Tun“. Der in Bezug auf das Wirkungsgefüge gewaltfreien Handelns wichtigste Unterschied zum pragmatischen Ansatz besteht darin, dass prinzipielle Gewaltfreiheit nicht mehr versucht, den Gegner zu zwingen. Vielmehr möchte sie ihn davon überzeugen, dass er sich im Unrecht befindet. Sollten rationale Information und Vorleben von Alternativen dazu nicht ausreichen, besteht ein wichtiges Überzeugungsmittel darin, dass die Widerständler bewusst die Sanktionen des Gegners als freiwilliges Leiden auf sich nehmen. Hierzulande heißt das oftmals eine Gefängnisstrafe, in anderen Kontexten kann es aber
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9 Ich benutze in diesem Papier den Begriff „gewaltlos“, wenn es allein um den Verzicht auf tödliche physische Gewalt geht. Von „gewaltfrei“ spreche ich, wenn deutlich erkennbar eine ethische Basis bzw. grundsätzliche Ablehnung jeder Gewalt zu jedem Zeitpunkt besteht. In manchen Fällen ist dies nicht eindeutig festmachbar, deshalb sollte diese Differenzierung nicht überbewertet werden.
10 Zum Beispiel die Arbeit des Theologen Martin Arnold zu „Gütekraft“, in der er Annahmen über Wirkungsmechanismen gewaltfreier Aktion von vier ProtagonistInnen solcher Aktion untersucht. Siehe Arnold 2011.
11 https://www.nonviolent-conflict.org/index.php/what-is-icnc/glossary-ofterms# NonviolentActionDefinition.
12 https://www.aeinstein.org [22.7.2008].
13 https://www.nonviolent-conflict.org/index.php/about-icnc. [3.10.2012]
14 https://www.canvasopedia.org [16.10.2012]
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auch schwere Verletzung oder Tod bedeuten.15 Gandhi schrieb dazu in einem oftmals zitierten Aufsatz: "Die Grundbedeutung von Gewaltfreiheit ist Festhalten an der Wahrheit, Kraft der Wahrheit. Ich habe sie auch Liebes- oder Seelenkraft genannt. Bei der Anwendung von Gewaltfreiheit entdeckte ich schon sehr früh, dass die Wahrheitssuche es nicht erlaubt, dem Gegner Gewalt anzutun. Er muss vielmehr durch Geduld und Mitgefühl von seinem Irrtum abgebracht werden. Was aber dem einen als Wahrheit erscheint, mag dem anderen als Irrtum erscheinen. Geduld aber bedeutet Selbstleiden. Von da an bedeutete die Lehre von der Gewaltfreiheit, dass man die Wahrheit verteidigt, indem man nicht dem Gegner, sondern sich selbst Leiden zufügt.“16 Beide Ansätze, der pragmatische und der prinzipielle, haben mehrere Dinge gemein:
Die Vermeidung von physischer Gewalt unabhängig von den Methoden, die der Gegner
anwendet. (Nur solange gewaltfrei zu bleiben, wie der Gegner, z.B. die Polizei
oder das Militär, auch keine Gewalt anwenden, würde von keinem der Ansätze als
Gewaltfreiheit eingestuft.)
Eine gewisse Unterscheidung zwischen dem Menschen und der Rolle (z.B. Beruf),
den er einnimmt, und damit einhergehend die Überzeugung, dass er für die eigene
Seite gewonnen werden kann. (Während gewaltsamer Widerstand ab einem gewissen
Eskalationspunkt den Gegner schlicht zu vernichten sucht.)
Die Ansicht, dass es legitim ist, bestimmte Gesetze im Namen eines höheren Gutes
zu brechen.
Ihre Kernunterschiede sind, wie schon oben angesprochen, die Frage,
ob der Gegner notfalls auch zu einer Veränderung gezwungen werden kann, oder ob
es allein darum geht, ihn zu überzeugen,
ob Gewaltfreiheit schlicht als ein effizientes Instrument angesehen wird (das für verschiedene,
letztlich auch menschenfeindliche Zwecke eingesetzt werden könnte),
oder ob sie nicht losgelöst von einer ethischen Basis gesehen werden kann.
In diesem Hintergrundpapier sollen die wichtigsten Befunde dieser wichtigen Studien, die alle
ausschließlich in englischer Sprache vorliegen, für eine deutschsprachige LeserInnenschaft
zusammengefasst und kommentiert werden. Dabei fließen, vor allem in den drei Exkursen zu
Gene Sharps Theorie der Macht, zum Beispiel des Sturzes von Präsident Milosevic im Jahr
2000 und zur Rolle von Schutzbegleitung beim Umgang mit Repression, auch eigene Arbeiten
der Autorin mit ein.
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15 Zu den Unterschieden zwischen den Ansätzen siehe Arnold 2011 a.a.O., Gugel 1983 a.a.O.
und die Website der Tübinger Friedenspädagogen:
https://www.friedenspaedagogik.de/themen/zivilcourage/anfragen_probleme_und_kontroversen/kontrov
ersen_zum_verstaendnis_und_zur_reichweite_von_gewaltfreiheit/gewaltfreiheit_technik_oder_prinzip.
Die Beiträge in dem Buch von Steinweg & Laubenthal (Hrsg.) (2011) gehen nur wenig auf diese Fragen
ein; sie können in ihrer überwiegenden Mehrzahl eher der „prinzipiellen“ Richtung zugeordnet
werden.
16 Gandhi, Mohandas K. (1991) Satyagraha. Navajivan Press, Ahmedaba 14, 1991, S. 6f., zitiert
nach
https://www.friedenspaedagogik.de/themen/zivilcourage/grundlagen/begruendungen_fuer_gewaltfreies
_handeln [2.10.2012].
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2. Ziviler und gewaltsamer Widerstand
2.1 Ziviler Widerstand
Ziviler Widerstand wird von Chenoweth und Stephan definiert als ein „Typ politischer Aktivität,
der absichtlich oder notwendigerweise normale politische Kanäle umgeht und nichtinstitutionelle
(und oft illegale) Aktionsformen gegen einen Gegner einsetzt“ (2011:12). Bei
ihnen und auch einem Großteil der anderen neuen Studien geht es trotz dieser weiten Definition,
die eigentlich alle Formen gewaltfreier Aktion, auch die Zerstörung eines Feldes mit
Genmais oder das symbolische Bearbeiten eines atomwaffentragenden Kampfjets mit
Hämmern, dann aber fast ausschließlich um das, was Theodor Ebert in den 1970er Jahren
als gewaltlosen Aufstand bezeichnet hatte. Der Begriff der Sozialen Verteidigung taucht in
den Studien nicht auf, obwohl einige der untersuchten Beispiele, bei denen es um Widerstand
gegen eine militärische Besatzung handelt, durchaus als Soziale Verteidigung bezeichnet
werden könnten. Um den Sturz von Regierungen (regime change) geht es Sharon
Erickson Nepstad, Carter und Clark. Nepstad benutzt den Begriff der „gewaltlosen Revolution“
17; Carter und Clark (u.a.) greifen den in den Philippinen 1986 geprägten Begriff auf und
sprechen von „people power“ Bewegungen.
Der Begriff „ziviler Widerstand“ impliziert in allen hier vorzustellenden Studien ‚gewaltlosen‘
Widerstand, nicht nur „Widerstand von ZivilistInnen“ oder der „Zivilgesellschaft“, wie der Begriff
‚zivil‘ nahelegen könnte. Dabei wird von praktisch allen oben genannten AutorInnen ein
pragmatisches Verständnis von Gewaltlosigkeit zugrunde gelegt, der Verzicht auf physische
Gewalt. Die Studien nutzen i.d.R. die von Gene Sharp schon in den 1970er Jahren entwickelte
Terminologie gewaltloser Aktion18 und betrachten die Wirkungsmechanismen zivilen
Widerstands als eine Form des Kampfes, mit Sieger und Besiegten, nur halt bei Verzicht
darauf, den Gegner zu töten. 19
Exkurs: Gene Sharps Theorie der Macht
Die theoretische Basis, die allen Untersuchungen über zivilen Widerstand und Sozialer Verteidigung
gemein ist, ist die Annahme, dass die Herrschenden abhängig sind von der Zustimmung
der von ihnen Beherrschten. Gene Sharp hat seine Untersuchungen über gewaltlose
Aktion (1973) mit dieser Theorie der Macht untermauert, der sog. „Theorie der Zustimmung“
(consent theory). Sie geht auf einen Juristen des 16. Jahrhunderts, Etienne de la Boitié,
zurück.20 Ihr Kern ist, dass letztlich Menschen die Quelle aller Macht sind. Macht wird dabei
als „Macht über“ andere Menschen verstanden; alternative, z.B. feministische Verständnisse
von Macht als „Macht aus dem Inneren heraus“ und „Macht mit Anderen“ bleiben unberücksichtigt.21
Nach Sharp basiert politische Macht auf externen Ressourcen:
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17 Zu dem Begriff könnte eingewandt werden, ob der Begriff der Revolution nicht besser für jene
Situationen reserviert werden sollte, wo die angestrebte und/oder erzielte Veränderung mehr ist als
ein Regierungswechsel bei ansonsten im Kern gleich bleibenden Strukturen, z.B. ein Wandel von einer
Einparteien-Regierung, die bestenfalls regelmäßig mit angeblich 90% aller Stimmen im Amt bestätigt
wird, hin zu einem demokratischen System mit etlichen echten Parteien und freien und fairen Wahlen.
18 Sharp 1973.
19 Siehe https://www.nonviolent-conflict.org/index.php/what-is-icnc/glossary-ofterms#
NonviolentActionDefinition.
20 Etienne de la Boitié (1530-1563) Von der freiwilligen Knechtschaft. Geschrieben ca. 1550;
nach de la Boitiés Tod 1974 erstmalig gedruckt
21 S. Burrowes 1996
Max Weber definierte Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen
Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. (Max
Weber (1972) Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe. Tübingen, S.:28)
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Seite 11 [Fortsetzung Exkurs Gene Sharp]
1. Autorität (Legitimität), die freiwillig akzeptiert wird
2. Menschliche Ressourcen (die Zahl der Menschen, die gehorchen)
3. Fähigkeiten und Wissen
4. Nichtmaterielle Faktoren wie Gewohnheiten und Einstellungen gegenüber Gehorsam
5. Materielle Ressourcen
6. Sanktionen
All diese Quellen sind letztlich abhängig von Gehorsam und Kooperation der Beherrschten,
und können entzogen werden. Gehorsam ist das Zentrum politischer Macht, und Sharp benennt
auch Gründe, warum Menschen gehorchen:
1. Gewohnheit
2. Angst vor Sanktionen
3. Moralische Verpflichtung
4. Selbstinteresse
5. Psychologische Identifizierung mit dem Herrscher
6. Gleichgültigkeit
7. Fehlen von Selbstbewusstsein, nicht zu gehorchen.
„Es sind nicht die Sanktionen selbst, die Gehorsam produzieren, sondern die Angst vor ihnen“,
sagt Sharp an anderer Stelle (2005:34).
Sharps Theorie ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden, allerdings ohne ihren Grundgedanken völlig infrage zu stellen:
1. Menschen seien nicht die einzige Quelle von Macht; es gebe Situationen, in denen sie
nicht gebraucht werden. Wenn z.B. ein Land aus dem alleinigen Interesse heraus erobert
wird, seine Rohstoffe auszubeuten, sind die dort lebenden Menschen nebensächlich.
2. Die Theorie reflektiere unzureichend die kulturellen Dimensionen und dass nicht notwendigerweise alle Menschen vollberechtigte Mitglieder der Gesellschaft seien (z.B.
Frauen).
3. Der Ansatz sei zu voluntaristisch und reflektiere nicht genug die Macht sozialer Strukturen,
insbesondere von Patriarchat, Kapitalismus oder Staat.22
[Exkurs Ende]
Chenoweth und Stephan (2011) differenzieren zwischen drei Typen von Kampagnen nach
ihren Zielen: Regime-Change, Widerstand gegen Besatzung und Sezession.
Nepstad unterscheidet zwei Formen von Aufständen – die eine bezeichnet sie als das gandhianische
Modell. Diesem Modell stellt Nepstad ein zweites Modell, dass „Wahlen-Modell“
gegenüber.
Das „gandhianische Modell ist durch sechs Methoden der Entziehung der Unterstützung für
das Regime gekennzeichnet. Diese sechs Methoden leitet sie von Gene Sharps Studie über
Methoden gewaltloser Aktion ab (s. oben):
1. Die Weigerung, anzuerkennen, dass die vom Regime aufgestellten Regeln legitim sind,
wodurch sie ihre Autorität verlieren;
2. Mentalität oder Ideologien des Gehorsams in Frage stellen.
3. Weigerung, Gesetzen zu gehorchen oder mit dem Regime zu kooperieren.
4. Dem Regime die materiellen Ressourcen entziehen.
5. Sich zu weigern, ihre Fähigkeiten einzusetzen, um Aktivitäten der Regierung zu unterstützen.
6. Die Fähigkeit zur Sanktionierung durch den Staat zu unterminieren.
Bei dem anderen Modell geht es darum, dass AktivistInnen sich anlässlich von manipulierten
Wahlen organisieren und versuchen, faire Wahlen zu erreichen.23. Dieses Modell wurde
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22 S. Burrowes 1996.
23 Dabei bezieht sie sich auf Bunce, Valerie und Wolchik, Sharon (2006) ‚Favorable Conditions
and Electoral Revolutions.‘ Journal of Democracy 17(4):5-18, S. 6
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erfolgreich in Revolutionen der Farben in Osteuropa angewendet, und beruht auf folgenden
Aktivitäten:
Eine Oppositions-Koalition über Klassen hinweg.
Die Opposition konzentriert sich zunächst auf die Registrierung der Wähler und versucht,
die Korrektheit von Wählerlisten und damit die Wahlbeteiligung zu erhöhen.
Mobilisieren der Unterstützung durch einheimische und internationale WahlbeobachterInnen.
Zuvor vorbereitete Pläne für Massenproteste im Falle von Wahlfälschung umsetzen.
2.2 Bedingungen und Formen gewaltloser und gewaltsamer Aufstände
War bisher allein von zivilem Widerstand bzw. gewaltlosem / gewaltfreien Aufständen die
Rede, soll es im folgenden Abschnitt darum gehen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede
zwischen beiden in den Blick zu nehmen.
Gewaltsame und gewaltlose Aufstände haben, wie Nepstad (2011) betont, dieselben Ursachen.
Ihr zufolge entstehen revolutionäre Bewegungen, wenn fünf Bedingungen gegeben
sind:
1. Weitverbreitete Vorwürfe gegen den Staat, die Zweifel an der Legitimität des Regimes wecken.
2. Wenn nationale Eliten ihre Solidarität vom Staat auf die Opposition übertragen.
3. Menschen müssen über die Ungerechtigkeiten des Regimes so verärgert sein, dass sie
bereit sind zu handeln.
4. Oppositionsgruppen müssen sich auf eine Ideologie der Rebellion einigen, die die Empörung
in eine soziale und ideologische Kritik einbettet.
5. Organisationen sind erforderlich, die mobilisieren und fähig sind, den Aufstand zu koordinieren,
unterstützen und leiten.
Gewaltsamer Widerstand hat eine ähnlich große Bandbreite wie ziviler Widerstand. Auch er
operiert außerhalb normaler politischer Kanäle. Seine Bandbreite reicht von Gewalt in Demonstrationen
über die bewaffnete Besetzung von Gebäuden und Sabotage bis hin zu Krieg
(Guerilla-Krieg, Befreiungskriege, Bürgerkriege) und Terrorismus. Wie besonders die Studie
von Dudouet 2014 (s. unten) deutlich macht, sollte man sich allerdings auch bei zivilem Widerstand
vor einer Idealisierung hüten – oftmals haben auch Bewegungen, die von Außenstehenden
als gewaltlos eingeordnet werden, Elemente von Gewalt, nur dass diese entweder
so sporadisch auftreten, so randständig gegenüber gewaltlosen Massenprotesten sind
oder die Form der Gewalt so asymmetrisch, dass sie trotzdem als gewaltlos kategorisiert
werden.24
Bekannt sind all jene Fälle, in denen gewaltloser Widerstand sich zu gewaltsamem wandelte.
U.a. geschah dies im Kosovo 1997, als die Kosovo-Befreiungsarmee innerhalb relativ kurzer
Zeit von einem Jahr den gewaltlosen Widerstand verdrängte, und Syrien 2011/12, als die
Aufständischen zuließen, dass desertierende Soldaten, die sich zur Freien Syrischen Armee
zusammenschlossen, anfingen, die Proteste zu ‚beschützen‘.
Gründe für solches Umschwenken von zivilem zu gewaltsamem Widerstand sind i.d.R. das
Fehlen von sichtbaren Veränderungen/Erfolgen durch den gewaltlosen Widerstand, Versagen
bei der Kontrolle vor allem junger, ungeduldiger Männer durch die Führung des Widerstands,
die trotz der Wahl einer anfänglich gewaltlosen Strategie bleibende Überzeugung
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24 Ein Beispiel für sporadisches Auftreten wäre das In-Brand-Setzen des Belgrader Fernsehgebäudes
während des Aufstandes 2010. Verbreitete aber eher periphere Gewalt im Vergleich war in Ägypten und Tunesien 2011 zu beobachten. Die Asymmetrie von Gewalt ist der Grund, warum die 1. Intifada in Palästina oftmals als gewaltloser Widerstand eingestuft wird („Steine werfende Jugendliche
gegen Panzer“).
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von der größeren Wirksamkeit von Gewalt und sicher auch patriarchale Denkmuster von
Schande und Ehre. Dudouet (2014) referiert weitere Faktoren, die in der wissenschaftlichen
Literatur identifiziert wurden: Fraktionen innerhalb der Bewegung, die durch Radikalisierung
miteinander um Macht und Anhängerschaft konkurrieren. Die Theorie der Ressourcenmobilisierung
argumentiert, dass Gewalt dann passiert, wenn Mobilisierung zurückgeht. Auch psycho-
soziale Faktoren wie persönliche Opfererfahrungen, politische Unrechtswahrnehmungen
oder persönliche Beziehungen spielen auf individueller Ebene (der Anführer) eine Rolle.25
2.3 Übergänge von gewaltsamem zu gewaltlosem Widerstand
Diese neue, im Herbst 2014 erschienene Studie von Véronique Dudouet vom Berliner Berghofinstitut beschäftigt sich auf vergleichender Basis mit der Frage, wie es dazu kommt, dass Aufständische von Gewalt zu gewaltlosen Strategien übergehen. Anhand von acht Fallstudien, vom ANC in Südafrika bis zu den Maoisten in Nepal, arbeitet sie Faktoren heraus, die eine Rolle dabei spielen, dass Bewegungen ihren Aufstand mit gewaltlosen Mitteln weiterführen.
26 Dabei bestehen oftmals bewaffneter und unbewaffneter Kampf bzw. bewaffnete Gruppierungen und eine breitere Bewegung nebeneinander fort. Auch die Grenzen zwischen beiden Formen des Widerstandes sind fließend, wie in mehreren Fallstudien deutlich wurde. In
Palästina z.B. wurde „Volkswiderstand“ als Widerstand, an dem breite Bevölkerungskreise
teilnehmen konnten, von spezialisierten bewaffneten Widerstandsformen unterschieden,
aber dieser „Volkswiderstand“ beinhaltete Dinge wie Steine werfen, Wirtschaftssabotage und
verbale Angriffe auf israelische SoldatInnen. In Chiapas und Nepal behielten die Aufständischen
ihre Waffen, hörten aber weitgehend auf, sie einzusetzen.27 In Südafrika verfolgte der
ANC eine pluralistische Strategie von parallelen bewaffneten, unbewaffneten und konventionell
politischen Strategien.
Ein anderer Typ des Überganges war ein zweischrittiger Prozess: Der erste war eine klare
Anordnung von Seiten der Führerschaft, zu demobilisieren, gefolgt von konventioneller politischer
Aktion. Als diese erfolglos blieb, wurden von einigen früheren Mitgliedern der bewaffneten
Bewegung in einem zweiten Schritt gewaltlose Mittel des Protestes eingesetzt. Ein
Beispiel für dies ist die MAQL in Kolumbien, deren Guerillakampf von 1977 bis 1990 dauerte.
Ein dritter Typ des Übergangs ist eine progressive Eskalation von zivilem Widerstand bei
gleichzeitigem Rückgang des bewaffneten Kampfes im Rahmen einer breiteren Befreiungsbewegung,
wobei es entweder regional zu solchen Entwicklungen kommt oder eine neue,
junge Generation von Anführern eine neue Strategie vertritt (z.B. die Polisario in der Westsahara
und die PLO). Faktoren, die zu diesen Veränderungen führen, sind vor allem Strategieveränderungen
in der Führerschaft ideologischer, strategischer (z.B. Erkenntnis von militärischer
Unterlegenheit oder positive politische Signale des Gegners) und taktischer Art,
Generationenwechsel in der Führerschaft, Kriegsmüdigkeit bei der Anhängerschaft, die ihre
Führer drängen, eine neue Strategie einzuschlagen, Entstehen breiterer gesellschaftlicher
Allianzen und vielleicht auch wiederum Konkurrenz zwischen verschiedenen bewaffneten
Gruppen und das Streben, sich von ihnen abzusetzen. Bei der Entscheidung gegen die Fortsetzung
des bewaffneten Kampfes spielen auch Dinge wie Druck durch Alliierte und das Bilden
gesellschaftlicher Koalitionen, wie der Grad an Repression oder positive Signale des
Gegners und geostrategische Faktoren (internationale Unterstützung) eine Rolle. Zum Beispiel
führte der Zusammenbruch der Sowjetunion dazu, dass vielen bewaffneten Bewegungen
der wichtigste Unterstützer verloren ging. Dazu kommen positive Beispiele durch zivile
Aufstände in anderen Ländern, Erfahrungsaustausch und Trainings in gewaltlosen Widerstandsformen,
die ebenfalls eine Rolle spielten.
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25 Siehe Dudouet 2014:7f
26 Es geht also nicht um jene Fälle, wo aus einer Guerilla oder Terrororganisation eine politische
Partei wird oder auf anderem Wege der Kampf eingestellt und herkömmliche politische Kanäle beschritten
werden.
27 Dies und das folgende: Dudouet 2014:204 ff.
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3. Faktoren für Mobilisierung und Erfolg zivilen Widerstands
Bei den vergleichenden Studien zu zivilem Widerstand wird Erfolg einer Bewegung als das
Erreichen dessen, was die Bewegungen nach eigenen Aussagen anstrebten, und zwar in
zeitlicher Nähe (bei Chenoweth und Stephan innerhalb eines Jahres), definiert. Kriterien wie
Nachhaltigkeit (Bewahrung der erreichten Veränderung) oder Demokratisierung sind nicht
eingeflossen.28
Die unten referierten Studien können aufgrund dieser Begrenzung natürlich kritisiert werden,
was auch gelegentlich gerne geschieht, z.B. unter Verweis auf die antidemokratischen Geschehnisse
in Ägypten seit 2011. Auch könnte darauf hingewiesen werden, dass z.B. Burma
noch in den Studien von 2011 als Beispiel eines gescheiterten Aufstandes angesehen wird –
eine Bewertung, die angesichts der seitdem in dem Land eingetretenen Veränderungen vielleicht
überdacht werden müsste. Doch bislang fehlen schlicht wissenschaftlich seriöse Untersuchungen
über längere Zeiträume und verzögerte Wirkungen solcher Bewegungen29.
Mit diesen Qualifizierungen ist die Erfolgsbilanz gewaltloser Aufstände und gewaltlosen Widerstands
sehr beachtlich.
Zwischen 1972 und 2002 wurden nach Karatnycky & Ackerman (2005) 67 autoritäre Regime
beseitigt, mehr als 70% davon als Ergebnis gewaltloser Aufstände. Die schon zitierten Chenoweth
und Stephan (2011) untersuchten 232 gewaltsame und gewaltlose “Widerstandskampagnen”,
wie sie es nennen, zwischen 1900 und 2006, wovon 107 gewaltlos waren. Im
Vergleich stellte sich heraus, dass die gewaltlosen mehr als zweimal so erfolgreich waren
(53%) als die gewaltsamen. Anders formuliert: Nur jede vierte Kampagne versagte total, und
etwas mehr als einer von vier gewaltsamen Aufständen (26%) war erfolgreich (2011:11).
Die AutorInnen differenzierten wie oben erwähnt zwischen drei Typen von Kampagnen nach
ihren Zielen: Regime Change, Widerstand gegen Besatzung und Sezession, und kamen dabei
zu folgendem Bild:30
Regime-Change Anti-Besatzung Sezession
Gewaltsam Gewaltlos Gewaltsam Gewaltlos Gewaltsam Gewaltlos
Versagen 61% 17% 54% 24% 68% 100%
Teilerfolg 12% 24% 10% 41% 22% 0%
Erfolg 27% 59% 36% 35% 10% 0%
Zahl der Fälle 111 81 59 17 41 4
Auffällig dabei ist, dass Sezessionsbewegungen insgesamt eine sehr geringe Erfolgsrate
aufwiesen, und keine von den zusammen 32%, die einen Teilerfolg oder Erfolg erzielten, auf
gewaltlosem Wege ihr Ziel erreichten. Zum zweiten sollte auf die Kategorie „Anti-Besatzung“
geblickt werden – was hier erfasst ist, sind Beispielfälle von Sozialer Verteidigung, auch
wenn deren Erfolge oder Teilerfolge i.d.R. nicht sofort nach der Besatzung, sondern mit deutlicher zeitlicher Verzögerung eintraten.
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28 Siehe auch Nepstad 2011:xiii.
29 Zu diesem Thema s. auch Schweitzer & Johansen 2014, wo solche verzögerte Wirkungen bei
Friedensbewegungen beobachtet wurde.
30 Seite 73.
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Nepstad (2011) hebt hervor, dass strukturelle Faktoren eine wichtige Rolle dabei spielten,
das Machtgleichgewicht in einem Land zu kippen. Einige von ihnen liegen außerhalb der direkten
Kontrolle durch die Aufständischen. Dazu gehören in erster Linie:
- Wirtschaftliche Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit von anderen Ländern
- Vorhandensein oder Fehlen von hoch institutionalisierten Einparteien-Systemen. Solche
Einparteien-Systeme waren i.d.R. weniger anfällig für Spaltungen innerhalb der
Eliten.
Andere Faktoren sind neue Entwicklungen oder unerwartete Ereignisse, die neue politische
Chancen eröffnen, wie auch in dem Beispiel zu Otpor gezeigt werden konnte:
- Veränderungen in internationalen Allianzen und Vereinbarungen (die Ukraine
2013/14 könnte hierfür als Beispiel gelten – die Öffnung der EU für neue Mitglieder im
Osten)31
- Neuwahlen (z.B. Serbien 2000)
- Nachfolgekrisen, die auf den Rückzug oder Tod eines langjährigen Herrschers folgten
(z.B. der Tod Francos 1975 in Spanien)
• Inspiration durch erfolgreiche Aufstände in anderen Ländern (das war bei der Welle
von Aufständen im arabischen Raum gut zu beobachten)
• „Moralische Schocks“ durch Skandale (z.B. die Tötung von DemonstrantInnen durch
die Polizei)
In den sechs von Nepstad untersuchten Beispielen waren für die Mobilisierung vor allem
wichtig (2011:7)
- Wirtschaftliche Abwärtsbewegung (in praktisch allen Fällen).
- Moralischer Schock durch offene Repression. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist das
Verschwinden der 46 Studenten in Mexiko, das zu landesweiten Protesten in großem
Maßstab geführt hat.32
- Neue Gelegenheiten, die sich z.B. in der DDR boten, als Ungarn seine Grenze zum
Westen öffnete.
- Abwenden von Eliten von dem bisherigen System (z.B. wegen einer Wirtschaftskrise).
- Es gab einen geschützten, freien Raum für die AktivistInnen (oft in religiösen Einrichtungen),
wo sie sich austauschen konnten. Dies war z.B. auch in der DDR vor 1989
wichtig, wo die Opposition sich in den evangelischen Kirchen traf.
Die Autorin beschäftigte sich damit, inwieweit die von Gene Sharp (s. oben) beschriebenen
Formen des Widerstands angewendet wurden und kommt zu folgendem Ergebnis:
- Die Weigerung, die Autorität des Regimes länger anzuerkennen, kam in allen Fällen
vor,
- ebenso die Weigerung, Gesetzen zu gehorchen und zu kooperieren.
- Die Aufständischen stellten in allen Fällen die Mentalität des Gehorsams infrage.
- Das Enthalten von Fähigkeiten, d.h. die Weigerung, in der Arbeitswelt zu kooperieren,
passierte nicht in allen erfolgreichen Fällen, aber trat auch in den Fällen auf, die
kein Erfolg waren.
- Das Gleiche gilt für die Entziehung materieller Ressourcen; einige Regimes hatten alternative
Möglichkeiten der Eigenfinanzierung.
- Wo die Führung des Widerstands gespalten war oder interne Blockbildung passierte,
kamen die Aufstände zu Fall.
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31 Die angeführten Beispiele stammen nicht von Nepstad, sondern von der Autorin dieses Papiers.
32 Siehe hierzu den Artikel von N.C. im Friedensforum 1/2015.
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- Die erfolgreichen Bewegungen blieben gewaltlos. Dies geschah weniger (darin ist
sich Nepstad mit allen anderen AutorInnen mehr oder weniger einig) aus einer ethischen
Grundüberzeugung gegen Gewalt heraus als dass man davon überzeugt war,
dass das Aufrechterhalten von gewaltfreier Disziplin für den Erfolg wesentlich sein.33
- Entscheidend war die Unterminierung der Sanktionsmacht durch den Staat, d.h. dass
seine Versuche, den Aufstand mit Gewalt zu unterdrücken, scheiterten.
- Den erfolgreichen Bewegungen gelang es zu verhindern, dass externe Sanktionen
sich negativ auf die Bewegung auswirkten (s. unten mehr zu diesem Thema).
Für Chenoweth & Stephan (2011) waren die entscheidenden, sich gegenseitig bedingenden
Faktoren die Gewaltlosigkeit und das hohe Maß an Beteiligung breiter Schichten von BürgerInnen:
Gewaltloses Vorgehen stützte und verstärkte die einheimische und internationale Legitimität
dieser Aufstände. Und es ermöglichte einer weit größeren Zahl von Bürgerinnen und
Bürgern die Teilnahme an den Protesten, weil die verschiedenen Barrieren, die eine Teilnahme
an Aufständen u.U. verhindern, geringer waren als bei bewaffneten Aufständen: Gewaltlose
Aufstände waren leichter ethisch zu rechtfertigen, sie verlangten keine besondere
körperliche Fitness oder Ausbildung, sie gingen offener mit Information um (während Gewalt
oftmals klandestine Organisationsstrukturen verlangt) und die Barrieren, sich zu engagieren,
waren niedriger.
Der höhere Grad an Teilnahme wiederum trug zu einer ganzen Anzahl von Faktoren bei, die
für Erfolg der Bewegungen entscheidend waren.
1. Gewaltsame Repression fiel mit größerer Wahrscheinlichkeit auf das Regime zurück und
schadete ihm mehr, als dass sie ihm nützte. (Während bei gewaltsamen Aufständen eine
solche Unterscheidung schwieriger ist oder gar unmöglich gemacht wird.) Im Vergleich zu
bewaffneten Bewegungen haben, so Chenoweth und Stephan, gewaltlose Bewegungen
sechsmal höhere Chancen, trotz massiver Repression ihre Ziele zu erreichen. Dazu unten
mehr.
2. Gewaltlose Bewegungen hatten mehr Chancen, ihre Taktiken zu verändern und anzupassen.
3. Die Störung des bürgerlichen Lebens war größer, was die Kosten für das Regime erhöhte.
4. Das Verlagern von Loyalität von RegimebefürworterInnen hin zu den Aufständischen war
einfacher.
5. Entscheidend war in praktisch allen Fällen das Überlaufen und Meutern von Sicherheitskräften.
Dies, darin sind sich alle Studien einig, geschieht eher, wenn ProtestiererInnen gewaltlos
bleiben und sich gegenüber Polizei und Militär nicht feindlich zeigen (auch nicht verbal),
sondern sie als “Teil von uns” ansprechen. Wo dies vorkam, hatten Bewegungen 46-
mal größere Chancen auf Erfolg. Da, wo Protestierende die Sicherheitskräfte pauschal als
Feinde anstatt als potenzielle Verbündete ansahen, scheiterten sie mit deutlich größerer
Wahrscheinlichkeit.
Weitere wichtige Variablen bei solchen Aufständen sind gemäß Chenoweth und Stephan die
Mobilisierung großer Massen, die Dezentralisierung von Kampagnen (s. das obenstehende
Beispiel über Serbien) und die Entwicklung von Strategien der Medienkommunikation.
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33 S. Nepstad 2011:xx.
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4. Umgang mit Repression
Ein besonderes Thema bei der Beschäftigung mit Aufständen ist immer die Repression. Bei
anfangs gewaltlosen Aufständen, die in Gewalt umschlugen, begründeten die AktivistInnen
dies oft damit, dass die Repression so extrem war, dass ihnen keine Wahl blieb. Und Aufstände,
egal ob gewaltlos oder gewaltsam, die scheiterten, taten dies oft aufgrund der Gewalt,
mit denen der gegnerische Staat ihnen begegnete. Schock spricht in diesem Kontext
von dem entscheidenden Kriterium der „Widerstandsfähigkeit“ (resilience), die neben der
Fähigkeit, einen Hebel für Veränderung zu finden, entscheidend für Erfolg oder Niederlage
von Bewegungen war.34 Eine der am häufigsten anzutreffenden Fehlwahrnehmungen in Bezug
auf Gewaltlosigkeit ist, dass sie nur funktioniere, wenn der Gegner keine massive Gewalt
anwende. Diese Überzeugung wird auch von vielen AktivistInnen geteilt, sofern sie nicht
aus eigener Erfahrung oder durch die Beschäftigung mit anderen Beispielen lernen, dass
dies nicht so sein muss.35
Es ist richtig, dass Gewaltlosigkeit bis zu einem gewissen Grad ein Regime daran hindern
mag, seine volle Macht einzusetzen, aber dafür gibt es keine Garantie. Chenoweth und Stephan
fanden, dass die von ihnen untersuchten Fälle von gewaltlosem und gewaltsamem Widerstand
in 88% der Fälle mit Gegengewalt konfrontiert waren, wobei das Beibehalten einer
gewaltlosen Strategie trotz Gegengewalt die Erfolgschancen der Bewegungen um 22 Prozent
erhöhte.36
Für den Wirkungsmechanismus, der dafür verantwortlich ist, haben Sharp und andere (z.B.
Martin 2011) den Begriff des „backfire“37 geprägt und erläutert. Damit ist gemeint, dass die
angewendete Gewalt auf den Gegner selbst zurückfällt. Gewalt löst Empörung und Wut aus,
und führt nicht selten dazu, dass am nächsten Tag, z.B. nachdem bei einer Demonstration
die Polizei Menschen erschoss, trotz der Wahrscheinlichkeit, dass es erneut zu tödlicher
Gewalt kommt, viel mehr Menschen auf der Straße sind. Als nicht angemessen angesehene
Gewalt führt auch dazu, dass internationaler Druck zunehmen könnte.
Manchmal werden solche Mechanismen auch bewusst provoziert – in der Bewegungsforschung
wurde dafür der Begriff der Dilemma-Aktion geprägt. Das sind Aktionen, die so angelegt
werden, dass der Gegner eigentlich nur verlieren kann, weil er nur die Wahl zwischen
unangemessener Gewalt hat (wodurch er noch mehr Unterstützung verlieren würde) und
dem Nachgeben.38
Gene Sharp war oben mit dem Satz zitiert worden, dass es nicht die Repression selbst, sondern
die Angst vor ihr ist, die Menschen davon abhält, zu rebellieren. Aber Menschen sind in
der Lage, ihre Angst vor Unterdrückung und Gewalt zu überwinden – sei es aus Wut, sei es,
weil man das Gefühl hat, dass alles nur noch schlimmer werden kann und man nichts mehr
zu verlieren hat, sei es, weil das Vertrauen in vom Widerstand aufgebaute Schutzmechanismen
steigt.39
Solche Schutzmechanismen gibt es in großer Zahl, von taktischen Maßnahmen bei der
Durchführung einzelner Aktionen über generalisierten Schutz von AktivistInnen bis zu strukturellen
Maßnahmen, um die Bewegung insgesamt zu schützen. Zu ihnen gehören, neben
vielen anderen:
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34 Schock 2005: 142 fff.
35 Auch in sozialen Bewegungen in Deutschland ist diese Skepsis gegenüber der Gewaltlosigkeit
nicht unbekannt. Siehe das von Sarah Roßa (2013) für den BSV erstellte Hintergrundpapier Nr.
36, Gewaltfreiheit – Aktionsform, Handlungsmaxime oder Ideologie?
36 S. 51f.
37 Wörtlich: „zurückschießen“, ein Begriff aus dem Militärischen aus der Zeit der Kanonen, die
manchmal ‚nach hinten losgingen‘.
38 Siehe Sørensen & Martin 2014
39 Das Thema des „Überwindens von Angst“ war Thema auf einer in Coventry 2011 ausgerichteten
Konferenz.
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Taktische Maßnahmen bei Aktionen
‚Friedliche‘ Symbole (z.B. Blumen) mittragen, Ansprechen des Gegenübers, um die eigene
Gewaltlosigkeit zu demonstrieren und Polizei/Militär zu Solidarität mit den Aufständischen
zu bewegen
Die Polizei von einem Eingreifen abhalten, indem z.B. an der Spitze eines Demozuges
„harmlose“ und „Schutzbedürftige“ gehen, keine leicht als potenziell gewaltbereit einzustufende
Personen („Großmütter“ statt „jungen Männern“).
Eigene OrdnerInnen bei Demonstrationen, die sich darum bemühen, Gewalt aus der
Demonstration heraus zu verhindern.
Techniken des physischen Schutzes z.B. gegen Tränengas oder Knüppeleinsätze
(Atemmasken, Kleidung polstern).
Die Identität von AktivistInnen bei ansonsten öffentlichen Aktionen verbergen (Maskierung).
Geheime Aktionen bzw. genauer: Die Urheberschaft von Aktionen geheim halten (z.B.
Grafitti, Sabotage).
Generalisierter Schutz von AktivistInnen
Vorbereitung auf Aktionen durch Trainings (psychologische Vorbereitung auf Repressionserfahrungen)
Unterstützungsnetzwerke für Festnahmen, Prozesse und Gefängnisaufenthalte40.
UnterstützerInnen, die sich um das Wohlergehen der Familie kümmern, falls die Aktivistin
/ der Aktivist festgenommen oder getötet wird.
Druck auf Beamte ausüben, sie für ihre Handlungen verantwortlich machen (z.B. durch
Publikation ihrer Namen und/oder Fotos oder Filmen ihrer Aktionen).
Gerichtsverfahren gegen übergriffige Beamte.
Schutz von Bewegungen
Dezentralisierte Führung oder eine Führung, bei der einige Personen sich im Ausland
aufhalten und damit dem Zugriff des Regimes bis zu einem gewissen Grad entzogen
sind. Dies war z.B. der Weg, den die gewaltlose Bewegung im Kosovo in den 1990er
Jahren wählte – sie baute eine Parallelregierung auf mit einem sich im Lande aufhaltenden
Präsidenten (Rugova), aber auch sich im Ausland befindlichen Mitgliedern.41
Die eigenen Strukturen gegen Zerstörung schützen, z.B. wertvolle Daten so aufbewahren,
dass sie nicht bei Beschlagnahme verloren gehen
Vorsichtsmaßnahmen gegen Unterwanderung
Zum Schutz gehört auch, was externe Kräfte tun können. Dies wird oft als „Schutzbegleitung“
bezeichnet und beruht zu einem Großteil auf dem Mechanismus des „die Welt schaut
zu“. In Abschnitt 7 unten wird die Rolle der internationalen Unterstützung allgemeiner diskutiert.
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40 Für dies und die nächsten drei Punkte siehe Roßa, Sarah (2012) ‚Schutz vor Repression in
Belarus‘, in Broken Rifle Nr. 94, Hrsg. War Resisters‘ International.
41 Siehe Clark 2000.
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Exkurs: Die Rolle der Schutzbegleitung42
Zu wissen, dass man nicht allein ist, ist ein grundlegender psychologischer Faktor, der hilft,
mit Angst umzugehen. Er wird zu einem effektiven Instrument, wenn diejenigen, die einen
begleiten, die Fähigkeit haben, das Risiko, dem man ausgesetzt ist, zu reduzieren. Obwohl
oft in Zahlen eine gewisse Stärke liegt – 1.000 DemonstrantInnen werden weniger wahrscheinlich
festgenommen als 50, denn 1.000 könnten die Kapazität derjenigen, die die Festnahmen
vornehmen, übersteigen, und zu größerer öffentlicher Aufmerksamkeit führen -, fordert
Schutzbegleitung gewöhnlich mehr, als nur die Zahlen zu erhöhen.
„Schutzbegleitung“ hat eine enge und eine weite Bedeutung. Im engen Sinne beschreibt sie
die physische Anwesenheit einer Begleiterin oder eines Begleiters als (unbewaffnetem) 'Bodyguard',
Präsenz in Büros von Organisationen, die Beobachtung von Demonstrationen und
anderen
Protesten oder eine vorbeugende Präsenz in bedrohten Dörfern mit der Absicht, gewaltsame
Angriffe oder Polizeiübergriffe dadurch abzuhalten, dass die/der BegleiterIn die Tat beobachten
und reagieren würde.43 Ein anderer Begriff für solche Aktivitäten ist der des zivilen Peacekeepings,
wobei ziviles Peacekeeping i.d.R. als unparteiliche Aktivität zum Schutz von Zivilbevölkerung
vor massiver Gewalt verstanden wird, nicht als solidarische Begleitung eines
Aufstandes.44
In einem weiteren Sinne wird der Begriff 'Schutzbegleitung' beinahe synonym damit gebraucht,
was sonst unter 'Solidaritätsarbeit' fällt und umfasst auch Dinge wie „Begleitung aus
der Ferne“. Das sind Dinge wie Öffentlichkeitsarbeit, Proteste, gezielte Lobbyarbeit usw. zugunsten
der entsprechenden Bewegung. Ein Beispiel aus Deutschland wäre die Gruppe
„Adopt a Revolution“, die sich seit 2011 für die zivilen Aufständischen in Syrien einsetzt.
In Widerspruch zu der üblichen Definition von Schutzbegleitung, wie sie zum Beispiel in Mahonys
und Egurens klassischer Studie „Unarmed Bodyguards“45 gegeben wird, soll hier von
Anfang an betont werden, dass es nicht nur Internationale sind, die Schutzbegleitung anbieten,
sondern oft – und wahrscheinlich viel gewöhnlicher – es MitbürgerInnen sind, die solchen
Schutz bieten.
Falls die Begleitung dem gleichen Maß an Risiko ausgesetzt ist wie der/die Begleitete, dann
erhöht sie in der Tat nur die Zahlen. Aber BegleiterInnen werden effektiver, sofern sie Einfluss
haben, das Verhalten jener zu beeinflussen, von denen die Drohung ausgeht (z.B. Polizei,
Paramilitärs, feindliche Mobs, Todesschwadronen etc.). Verschiedene Quellen solchen Einflusses
oder Macht können unterschieden werden:
1. Eine respektierte Persönlichkeit zu sein aufgrund von Beruf, Alter, Mitgliedschaft in einer
bestimmten Gruppe (z.B. religiösen Orden oder der führenden politischen Partei), das Vertrauen
der Gemeinschaft zu genießen, eine religiöse oder politische Führungsrolle innezuhaben
usw. Dies ist eines der Instrumente, das einheimische SchutzbegleiterInnen am häufigsten
einsetzen können. Zum Beispiel waren es in Sri Lanka oftmals katholische Bischöfe,
die halfen, MenschenrechtsverteidigerInnen zu beschützen. In vielen Ländern, besonders in
ländlichen Gebieten, sind es Älteste, die eine solche Rolle spielen.
2. Respektiert zu werden, weil man ein/e privilegierte/r AusländerIn ist. Das funktioniert in
jenen Ländern, wo AusländerInnen – oder bestimmte Kategorien von AusländerInnen, besonders
solche weißer Hautfarbe – höheres Prestige als durchschnittliche Einheimische ge-
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42 Eine Vorfassung dieses Exkurses wurde unter dem Titel „Die Rolle von Schutzbegleitung“ im
oben zitierten „Broken Rifle“ Nr 94 veröffentlicht.
43 Patrick Coy (1997) nennt das den “Straßenkontext”.
44 Siehe Schirch (2005), Bund für Soziale Verteidigung (Hrsg.) 2015
45 “... physische Präsenz von ausländischen Freiwilligen mit dem doppelten Zweck, zivile AktivistInnen
oder Organisationen von gewaltsamen, politisch motivierten Angriffe abzuhalten, und sie zu
ermutigen, mit ihren demokratischen Aktivitäten fortzufahren” (Mahoney & Eguren 1997:2, Übersetzung:
Autorin).
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nießen. Dies ist die Idee, auf der die meisten älteren Friedensteam-Organisationen fußen.46
Doch oft ist dieses Macht-durch-Privileg-Prinzip ein Erbe der Kolonialzeit oder Resultat gegenwärtiger
Weltmachtpolitik, und hat daher den Beigeschmack der Ausnutzung von Rassismus
und Herrschaft – eine Tatsache, der sich die meisten Friedensteam-Organisationen
bewusst sind.
3. Einfluss durch Vertrauen, das man durch Arbeit in der Gemeinschaft oder der Region gewonnen
hat, z.B. wenn man Mitglied einer bekannten humanitären Organisation oder einer
zivilen Peacekeeping-Mission ist. Die NRO Nonviolent Peaceforce hat festgestellt, dass dies
einer der Hauptfaktoren für ihre Wirksamkeit beim Schutz von Zivilbevölkerung ist. Nonviolent
Peaceforce setzt mindestens genauso viele Friedensfachkräfte aus dem globalen Süden
wie aus dem Norden ein, und musste deshalb ihren Einfluss auf andere Elemente als die zuvor
genannten Friedensteams aufbauen. Sie fand heraus, dass es der Aufbau von Vertrauen
in den Gemeinschaften ist, der den Unterschied ausmacht.
4. Gefürchtet zu werden, weil man Instrumente zur Hand hat, einem Angriff unmittelbar zu
begegnen. Die offensichtlichste Kategorie hier sind natürlich bewaffnete Bodyguards, Polizei
oder Militär. Aber auch unbewaffnete Zivilpersonen mögen solche Instrumente zur Verfügung
haben: Das bestbekannte ist die Fähigkeit, den Preis eines Angriffs dadurch in die Höhe zu
treiben, dass man internationalen Druck organisiert. Das ist, was Mahoney und Eguren
(1997) die 'Macht der Abschreckung' nennen. Andere Methoden umfassen Alarmnetzwerke
von Leuten, die bereit stehen, Protestbriefe an eine Regierung zu schreiben, Botschaften
und einflussreiche internationale PolitikerInnen zu mobilisieren, und natürlich der Einsatz internationaler
Medien sind Werkzeuge für diesen Zweck.
5. 'Blaming und shaming' im persönlichen Kontext der potenziellen Täter. Das tut zum Beispiel
die belarussische Organisation “Unser Haus”, indem sie Briefe an NachbarInnen und
KollegInnen von BeamtInnen schreibt, die sich Übergriffe auf AktivistInnen erlaubt haben.
Das hat sich als sehr effektiv dabei erwiesen, das Verhalten der BeamtInnen zu ändern.
Selbstverständlich schließen sich diese Eigenschaften und Fähigkeiten nicht aus – oft werden
zwei, drei oder sogar alle vier miteinander in einer Person oder Gruppe vereint.
Schutzbegleitung hat ohne Zweifel das Leben von vielen AktivistInnen gerettet und ihnen
ermöglicht, ihre Arbeit fortzusetzen. Doch wie mit allen gewaltlosen Aktivitäten darf auch bei
Schutzbegleitung nicht angenommen werden, dass sie allmächtig ist. Sie kann auch versagen
und hat es getan. Ein bekanntes Beispiel ist die kolumbianische Friedensgemeinde San
José de Apartadó, die trotz der ständigen Anwesenheit von Internationalen aus mehr als einer
Organisation wiederholt Angriffe und Morden ausgesetzt ist. Illegale Festnahmen, Folter
und Morde passieren in vielen Ländern trotz versuchter 'Begleitung aus der Ferne'. Daher ist
es immer notwendig, eine sorgfältige Risikoanalyse zu erstellen, bevor man irgendeiner
Form von Schutzbegleitung
ins Auge fasst. Eine Strategie, die in einem Kontext funktioniert, könnte versagen oder
sogar kontraproduktiv in einem anderen Kontext sein, weil die BegleiterInnen nicht die gleichen
Quellen von Einfluss und Macht zur Verfügung haben. Oder einfach, weil die Interessen
der Täter an ihrer illegalen Aktivität so stark sind, dass sie bereit sind, den Preis zu zahlen.
[ENDE EXKURS „Schutzbegleitung“]
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46 Es gibt eine Reihe solcher Friedensteam-Organisationen: Peace Brigades International mit den
vom PBI abgespaltenen Gruppen Front Line und Protection International, Witness for Peace, Christian Peacemaker
Teams,und viele andere, darunter auch solche, für die Schutzbegleitung etwas ist, das nur gelegentlich
organisiert wird, wie z.B. vom Internationalen Versöhnungsbund und Pax Christi
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5. Widerstand gegen Krieg – Zonen des Friedens schaffen
Die US-amerikanische Organisation Collaborative for Development Action47 hat zwischen
2002 und 2006 13 Fallbeispiele gesammelt von Fällen, in denen Gemeinden oder ganze Regionen
sich aus einem sie umgebenden gewaltsamen Konflikt erfolgreich heraushielten. „Opting
Out of War“ ist das daraus entstandene Buch, das aus den Einzelfällen eine Reihe allgemeiner,
auf viele oder alle dieser Fälle zutreffende Faktoren ableitet.
Zunächst einmal bemerkenswert sind überhaupt die Zahl und der Charakter solcher Fälle.
Viele mögen von den Friedensgemeinden in Kolumbien wissen; manche vielleicht noch,
dass es auch auf Mindanao (Philippinen) solche Friedenszonen gibt. Aber wer weiß, dass
die Muslime in Ruanda während des Völkermordes es nicht nur schafften, sich selbst aus
dem Konflikt herauszuhalten, sondern in vielen Fällen auch ihren Tutsi-Nachbarn das Leben
retteten? Oder dass die Jaghori in Afghanistan in der Zeit des Taliban-Vormarsches ihre Unabhängigkeit
und eigene Lebensweise, zu der u.a. auch der Schulbesuch von Mädchen gehörte,
erfolgreich verteidigten? Die 13 Fälle umfassen Afghanistan, Bosnien-Herzegowina,
Burkina Faso, Kolumbien, Fidji, Indien, Kosovo, Mosambik, Nigeria, die Philippinen, Ruanda,
Sierra Leone und Sri Lanka.
Auch wenn jeder dieser Fälle natürlich seine Einzigartigkeit besaß, so gab es doch auch ein
paar Gemeinsamkeiten. Einige von denen sind nicht so anders wie die, die bei den gewaltlosen
Aufständen benannt wurden: Auch hier spielte eine entscheidende Rolle der Dialog mit
den bewaffneten Gruppen. Die Gemeinden sprachen und verhandelten mit ihnen, oft gingen
sie dabei Kompromisse ein, in manchen Fällen mussten sie eine vorübergehende oder auch
Besatzung erdulden.
Einige weitere entscheidende Faktoren waren:
- Antizipation des Konfliktes: Die Gemeinden „steckten nicht den Kopf in den Sand“ und
hofften, dass der Krieg irgendwie doch nicht eintreten würde, sondern stellten sich auf
ihn ein.
- Das vorherige Abwägen der Kosten (und möglichen physischen, psychischen oder materiellen
Folgen) und der Optionen einer Beteiligung versus einer Nicht-Beteiligung an
dem Krieg. Die meisten von ihnen benannten praktische Überlegungen für ihre Entscheidung,
mit der Ausnahme der Muslime in Ruanda, die sich auf die Lehren des Islams
für ihre Entscheidung beriefen.
- Wahl einer „Nichtkrieg-Identität“, während die sie umgebenden Gemeinden sich für eine
der Identitäten des Konfliktes entschieden, d.h. sich einer der Parteien anschlossen: Um
sich gegenüber den Kriegsparteien abzugrenzen, mussten die Gemeinden eine Identität
identifizieren, die ihren inneren Zusammenhang stärkte und ihre Ablehnung des Krieges
nach außen kommunizierte. Das waren z.B. Religion oder der gemeinsame Status als
BürgerInnen einer Stadt (statt ethnischer Zugehörigkeit), das Leben an einem bestimmten
Ort oder die Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder Familiengruppe. Wesentlich war,
dass diese Identitäten „normal“ waren, d.h. nicht künstlich geschaffen, sondern schon
vorher präsent gewesen waren, und nur mit neuen kollektiven Werten der Nichtbeteiligung
an dem Krieg gefüllt werden mussten.
- Der Zusammenhalt in den Gemeinden wurde durch verschiedene Maßnahmen und
Strukturen gesichert. Dazu gehörten Aufrechterhalten von Dienstleistungen (z.B. Schulwesen,
Sauberkeit, sicheres Trinkwasser), Etablierung und Erzwingung eines Verhaltenskodexes
(z.B. wie Konflikte in der Gemeinde bearbeitet werden sollten) und Maßnahmen,
die der Sicherheit dienten (z.B. Frühwarnsysteme, Absprachen zum Verhalten,
_ _ _ _
47 Sie wurde gegründet von Mary B. Anderson, die u.a. das Do-No-Harm-Konzept für humanitäre
Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit und Erfolgskriterien für die Evaluierung von Projekten Ziviler
Konfliktbearbeitung entwickelte, auf die sich heute ein Großteil der Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit
beziehen. Siehe www.cdainc.org.
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wenn Truppen kamen, Vorbereiten von Verstecken). Eine wichtige Rolle dabei spielten
auch Feiern in der Gemeinde.
- Eine legitime Regierung (Führungsstruktur). In allen Fällen war diese bereits vor dem
Krieg präsent gewesen – die AnführerInnen waren die aus Friedenszeiten – es brauchte
keine neue und nicht-traditionelle Führerschaft. Weitere wesentliche Merkmale waren
eine Beteiligung aller BürgerInnen an den Entscheidungen und insgesamt eine eher flache
Hierarchie und Zugänglichkeit der AnführerInnen für alle BürgerInnen, die diese
Strukturen auszeichneten. Anderson und Wallace beschreiben, dass die Annahme, dass
der Widerstand von effektiver Führerschaft abhinge, nicht von den Fallbeispielen belegt
wurde. Es gab keine charismatischen Führer, sondern Führerschaft war in vielen Fällen
vielschichtig und diffus. Ihr Ausgangspunkt war auch nicht eine von einem solchen Leitfigur
formulierte Vision, sondern wie eingangs gesagt eine pragmatische Entscheidung
der Nichtbeteiligung.
- Alle Gemeinden suchten den Kontakt mit den bewaffneten Gruppen, um ihren Status zu
schützen.
Anderson und Wallace unterscheiden sechs Strategien des Umganges mit den bewaffneten
Gruppen, die zumeist in Kombination miteinander angewendet wurden:
1. Nutzung schon zuvor existierender Netzwerke, um die Kämpfer von der Ernsthaftigkeit
ihrer Absichten zu überzeugen;
2. Direkte Verhandlungen mit allen Seiten;
3. Gastfreundschaft allen Seiten angeboten (Politik der „offenen Tür“);
4. Konfrontation der bewaffneten Gruppen, was allerdings die riskanteste Strategie war und
die, die am häufigsten versagte;
5. ‚Ko-option“ bewaffneter Gruppen, worunter die AutorInnen das Einbeziehen z.B. von Offizieren
oder Beamten von Seiten der kriegführenden Parteien in Aktivitäten der Gemeinschaften
verstehen
6. Gelegentliches Austricksen bewaffneter Gruppen: Zum Beispiel behaupteten die Muslime
in Ruanda öfters, sie hätten ihre Tutsi-Nachbarn bereits umgebracht, wenn die Hutu-
Rebellen kamen – in Wirklichkeit hatten sie sie versteckt.
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6. Die Rolle der Gewaltlosigkeit
Viele der besonders herausragenden und bedeutsamen Beispiele gewaltlosen Handelns –
Prag 1968, die Anti-Vietnam-Bewegung, der Sturz von Präsident Marcos auf den Philippinen
1986, die Umstürze in Mittel- und Osteuropa 1989, die Demokratiebewegung in China 1989
und der Widerstand der Kosovo-Albaner 1989-1997, um nur einige der jüngeren Fälle zu
nennen, würden in der in der Einleitung referierten Unterscheidung zwischen pragmatischer
Gewaltlosigkeit und prinzipieller Gewaltfreiheit eher das Prädikat „gewaltlos“ oder sogar nur
„gewaltarm“ verdienen, weil die Aktivistinnen sich aus pragmatischen Gründen für gewaltlose
Mittel entschieden hatten, auch wenn es in der Führung dieser Widerstände oft Einzelpersonen
gab, die mit den Ansätzen der Gewaltfreiheit vertraut waren und diese auch vertraten.
Wie oben dargestellt, betonen alle Studien über zivilen Widerstand die Bedeutsamkeit davon,
dass den Bewegungen es gelang, gewaltlos zu bleiben. Wobei kleinere bewaffnete
Zwischenfälle nicht so ins Gewicht fielen, solang der überwiegende Eindruck der einer gewaltlosen
Bewegung war. Wirklich „pur“ gewaltlose Aufstände gab es wenige. Zumeist gab
es gewaltsame Akte von Seiten der Aufständischen – das gilt für Ägypten 2011 und Serbien
2000 ebenso wie für viele andere Fälle, darunter auch den Kapp-Putsch, den Ruhrkampf
und Prag 1968.
Die Debatte, die bei uns und in Nordamerika bei gewaltlosen AktivistInnen darüber geführt
wird, ob Gewaltfreiheit eine „pragmatische“ Option sein darf oder ein „prinzipielles“ Bekenntnis
zur Nichtanwendung von Gewalt in allen Lebensbereichen sein muss, wird von den Studien
ziemlich
eindeutig beantwortet.48 Sie sortieren die Gewaltlosigkeit dieser Bewegungen als das ein,
was als die „pragmatische“ Orientierung bezeichnet wird. Einige der Friedensgemeinschaften,
die Anderson und Wallace untersuchten, betonten ausdrücklich, dass sie sich gegen
diesen einen bestimmten Krieg entschieden hatten, aber in anderen Fällen nicht nur durchaus
kämpfen würden, sondern auch schon gekämpft hatten.
Dennoch sagen diese Befunde etwas anderes aus, als was gelegentlich mit dem – manchmal
beinahe abwertend benutzten – Begriff der ‚pragmatischen
Gewaltlosigkeit‘ assoziiert wird. Bei ihm schwingt manchmal der Eindruck von Beliebigkeit
mit und des leichten Umschwenkens auf gewaltsame Strategien, führt die gewaltfreie Aktion
nicht unmittelbar zum Ziel oder begegnet massiver Gegengewalt.49 Dem widersprechen
die hier referierten Studien – die Erfolgsaussichten sind weitaus größer, wenn auch angesichts
von massiver Repression die eigene Gewaltlosigkeit beibehalten wird.
_ _ _ _
48 Siehe Schock 2005: xvi f, Ash 2011:371ff, Chenoweth & Stephan 2011: 12, Nepstad 2011:
3ff, Ash, Timothy (2011), ‘A Century of Civil Resistance: Some Lessons and Questions’, in: Roberts &
Ash (Hrsg.) 2011:371f
49 Siehe hierzu auch Bund für Soziale Verteidigung 2014.
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7. Die Rolle internationaler Unterstützung zivilen Widerstands
Zu einer differenzierten Einschätzung kommen
die neueren Studien in Bezug auf das
Thema internationaler Unterstützung von
Bewegungen zivilen Widerstands. Der internationale
Kontext ist fast immer von Bedeutung,
wie Ash (2011)50 hervorhebt. Aber
es ist nicht immer die Intervention, sondern
es kann auch deren Fehlen sein, das das
Schicksal einer Bewegung bestimmt. Ash
nennt das Beispiel von Burma 2007, wo die
Nichteinmischung der ASEAN-Staaten,
Chinas und Indiens entscheidend für die
Niederlage des Widerstandes war.
Aber auch, wo es solche Interventionen
gibt, ist das Bild zwiespältiger, als es oft
wahrgenommen wird. Es besteht oftmals
die Gefahr, dass solche Unterstützung die
Glaubwürdigkeit von Bewegungen untergräbt,
da sie sich dem Vorwurf öffnen,
„fremdgesteuert“ zu sein. Das gilt insbesondere
für jene Fälle, wenn die Unterstützung
aus dem globalen Norden bzw. konkreter
den USA oder Westeuropa kommt.
Carter (2012) betont, dass solche Beschuldigungen
zum Standardrepertoire von repressiven
Regierungen gehören, und im
Nachhall des Ost-West-Konfliktes besonders
für Bewegungen in Osteuropa angewendet
und von bestimmten Kreisen der
Linken aufgegriffen wurden.51 In etlichen
Ländern der Welt wurden in den vergangenen
zwanzig Jahren Gesetze geschaffen,
die es der einheimischen Zivilgesellschaft
erschweren, finanzielle Förderung aus dem
Ausland zu beziehen- Russland, wo sich
solche NROs als „ausländische Agenten“
registrieren lassen sollen, ist bei weitem
nicht das einzige Beispiel.
Eine Konferenz in Coventry im Jahr 2006
befasste sich mit diesem transnationalen
Faktor der internatiionalen Unterstützung
(s. Clark Hrsg. 2009). Anders als die übrigen
hier vorgestellten Werke beschränkt
sich dieses Buch nicht auf große Volksbewegungen,
sondern bezieht unterschiedliche
Arten von gewaltfreien Bewegungen
mit ein.
_ _ _ _
50 Siehe Ash a.a.0., S. 384 ff
51 Dies ist gut derzeit an der kontroversen Debatte um den Aufstand in der Ukraine 2013/14 zu
verfolgen.
_ _ _ _
Infokasten
Instrumente der Unterstützung
• Bildungsarbeit (Trainings, Workshops) zur
Entwicklung/Stärkung bestimmter relevanter
Kenntnisse und Fähigkeiten, von Techniken
der Wahlbeobachtung bis zum Eigenschutz
• Erstellung (oder Übersetzung) einschlägigen
Infomaterials (z.B. von Büchern, Broschüren
und Filmen über Aufstände anderenorts)
• Sichere Orte zur Verfügung stellen, wo
sich Oppositionelle treffen können (in Drittländern
z.B.), und die Fahrt dorthin finanzieren
• Finanzielle oder materielle Hilfe. Nach
Chenoweth & Stephan 2011 hatte solche
Hilfe keinen messbaren Einfluss auf das
Ergebnis gewaltloser Aufstände, verdreifachte
aber die Erfolgschancen für bewaffnete
Aufstände.
• (Negative) Sanktionen durch Regierungen.
Auch sie sind zweischneidig und können
Bewegungen Schaden zufügen; allerdings
verdoppelten sie die Chancen bewaffneter
Bewegungen, den Kampf zu gewinnen
(Chenoweth & Stephan 2011)
• Positive Sanktionen: Angebote der Unterstützung
als Belohnung für „Wohlverhalten“,
z.B. Anerkennung von Wahlergebnissen,
finanzielle Unterstützung eines neuen
Regimes oder einzelner Städte in einem
Land, die von der Opposition regiert werden
• Boykotts durch internationale Zivilgesellschaften
(z.B. die Anti-Apartheit-Bewegung
in Südafrika oder die gegenwärtig andauernde
BDS-Kampagne gegen Israel).
• Internationale gewaltfreie Interventionen
wie Friedensteams, Friedensmärsche und
dergleichen (z.B. die Gaza Freedom Flotilla)
• Menschenrechts-Monitoring / Berichte
• Lobbyarbeit bei ausländischen Regierungen
für die Anliegen einer Bewegung
• Schutzbegleitung, ziviles Peacekeeping
• Interventionen zum Schutz von AktivistInnen
aus der Ferne (z.B. Kampagnen
zur Freilassung von Festgenommenen)
• Berichterstattung durch internationale
Medien über Aufstände
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Exkurs: Der Sturz von Milosevic in Serbien52
Der Sturz des Milosevic-Regimes im Oktober 2000 durch eine gewaltlose Massenbewegung,
die von der Studierenden-Bewegung Otpor angeführt wurde, ist eine Erfolgsgeschichte gewaltlosen
Widerstands, obschon es Streit darüber gibt, welche Rolle international Unterstützung
gespielt hatte.
Otpor („Widerstand“) wurde im Herbst 1998 von einer kleinen Gruppe von Studierenden gegründet,
die in den vorherigen Protesten des Winters 1996-97 schon aktiv gewesen waren.
Ihre Proteste begannen im September 1999 mit Demonstrationen in zwanzig Städten, wo der
Rücktritt von Milosevic gefordert wurde. Die Polizei reagierte mit Gewalt, aber die Proteste
wurden fortgesetzt, obwohl die Zahlen vorübergehend abnahmen, als die Opposition einmal
mehr, wie schon mehrfach in den zehn Jahren zuvor, sich aufzuspalten begann. Zwischen
November 1999 und dem frühen Jahr 2000 entwickelte Otpor eine nationale aber dezentrale
Organisation, um zu vermeiden, dass sichtbare AnführerInnen Repression vereinfachten. Im
Mai 2000 gründeten 18 politische Parteien eine neue Koalition, die sich die „Demokratische
Opposition Serbiens“ (DOS) nannte. Im August 2000, als nationale Wahlen bevorstanden,
begann Otpor eine Anti-Milosevic-Kampagne mit dem Slogan “Er ist erledigt”. Am Wahltag,
dem 24. September, beobachteten mehr als 30.000 Freiwillige rund 10.000 Wahlstationen.
Otpor verfolgte die Strategie, zu massenhafter Teilnahme an den Wahlen aufzurufen, und –
in der Vermutung, dass Milosevic versuchen würde, die Wahlen zu fälschen - Beweise für
Irregularitäten zu sammeln und für öffentlichen Protest zu nutzen. Direkt nach den Wahlen
erklärten die Oppositionsparteien ihren Kandidaten Vojislav Kostunica zum Sieger, während
Milosevic behauptete, dass keine Seite die Mehrheit habe. In Reaktion darauf rief die Opposition
zu einem Generalstreik auf, der innerhalb weniger Tage volle Wirkung erzielte. Am 5.
Oktober versammelten sich Hunderttausende auf
den Straßen Belgrads, stürmten das Parlament und die staatseigenen Radio- und Fernsehstationen.
Am 6. Oktober erkannte Milosevic seine Niederlage an.
Der erfolgreiche Sturz von Milosevic ist wahrscheinlich das klarste Beispiel für das Zusammenwirken
von drei Akteuren: einer lebendigen lokalen Protestbewegung, Demokratisierungspolitik
von Seiten internationaler Regierungen und großer NROs, die diesen Regierungen
nahestanden, und einer internationalen gewaltlosen Basisbewegung als drittem Element.
Proteste gegen das Milosevic-Regime hatte es während der gesamten 1990er Jahre gegeben,
zumeist angeführt von Oppositionsparteien und Studierenden. Unabhängige Medien
wie das Radio B 92 und Antikriegs- und Frauengruppen wie das Zentrum für Antikriegsaktion
und Frauen in Schwarz wurden in dem gesamten Zeitraum von der internationalen Zivilgesellschaft
unterstützt. Sie bekamen finanzielle Hilfe, beschäftigten internationale Freiwillige,
die mit ihnen arbeiteten, und waren eng mit verschiedenen internationalen Netzwerken verbunden.
Es gab auch Trainings, die Strategien gewaltloser Aktion vorstellen, darunter einige,
die der Bund für Soziale Verteidigung ausrichtete.53
In dieser Anfangszeit kam die Unterstützung vorwiegend von Seiten kleiner internationaler
NROs (wie dem BSV), die Teil der Friedensbewegung in ihren jeweiligen Ländern waren,
und die sich über Spenden finanzierten. Nur wenige große, finanzstarke Organisationen wie
die Soros-Stiftung waren auch engagiert. Was die Staatenwelt anging, so galt Milosevic trotz
aller Kritik an Belgrads Rolle im Bosnien-Krieg und bei der Aufspaltung Jugoslawiens nach
1995 als bekannte Entität, mit dem man verhandeln konnte. Das änderte sich nach dem NATO-
Kosovo-Krieg gegen Serbien. Danach begannen die westlichen Regierungen, Ressourcen
in bislang nicht gekannter Höhe zur Verfügung zu stellen, um einen Regimewechsel in
Serbien herbeizuführen. Die USA alleine gaben 1999 10 Millionen USD und 31 Millionen in
_ _ _ _
52 Dieser Exkurs wurde Schweitzer 2010: 190 ff entnommen. Dort sind auch die Quellen für diese
Darstellung im Einzelnen angeführt.
53 S. Large o.D. (ca. 1997).
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2000 für „Demokratiehilfe“ aus. Das Geld wurde vorwiegend für die Organisation von Treffen
und Trainings, Demonstrationsmaterialien (z.B. Aufkleber „Er ist erledigt“) für Otpor, Oppositionsparteien
und Gemeinden, in denen
die Opposition regierte, ausgegeben. Hilfen der EU haben sich geschätzt in den beiden Jahren
auch auf rund 40 Millionen USD belaufen.
Das zweite Element internationaler Unterstützung für Otpor waren Konferenzen, Trainings
und Workshops. Einige KommentatorInnen sahen in diesen Trainings einen entscheidenden
Faktor für den Sturz von Milosevic – VertreterInnen von Otpor selbst bestreiten dies allerdings
vehement und betonen, dass solche Trainings (z.B. vom Ost-West-Institut und dem
International Republican Institute in Zusammenarbeit mit einem Kollegen von Gene Sharp),
zwar halfen, aber dass der Widerstand nicht „fremdgesteuert“ war.54 Das Zentrum für Zivile
Initiativen in Belgrad übersetzte Gene Sharps Buch „From Dictatorship to Democracy“ ins
Serbische und verteilte 5.500 Kopien.55 Im Sommer 2000 organisierte IRI dann Trainings für
WahlbeobachterInnen an der ungarischen Grenze. Die 400 TeilnehmerInnen ihrerseits bildeten
dann 15.000 weitere Wahlbeobachterinnen aus.
Diese internationale Unterstützung wurde von Otpor in der Zeit des Aufstandes geheim
gehalten, weil man fürchtete, dass es negativ aufgenommen würde, würde sie bekannt. Die
Regierung versuchte sowieso immer, jede Opposition als fremdgesteuert zu diffamieren.
Selbst als nach dem erfolgreichen Sturz von Milosevic die Unterstützung bekannt wurde,
kam es zu negativen Reaktionen, und besonders für viele Linke sind Otpor (und andere osteuropäische
AufständlerInnen) Marionetten der USA.
Um die Rolle und Bedeutung internationaler Unterstützung bewerten zu können, muss man
fragen, warum die Bewegung 2000 Erfolg hatte und was sie von früheren Versuchen in den
1990er Jahren unterschied, die Regierung zu stürzen.
Die massivere internationale Unterstützung ist dabei gewiss ein wichtiger Faktor, aber genauso
wichtig war die veränderte politische Situation in Serbien nach dem Kosovo-Krieg.
Die wirtschaftlich desolate Lage, die Sanktionen und das fortgesetzte Versagen der Regierung,
durch Reformen die Situation zu verbessern, die Niederlage in allen Kriegen (Kroatien,
Bosnien, Kosovo), die Vereinigung der Oppositionsparteien, eine gute landesweite Koordination
und die Gelegenheit, die die Wahlen 2000 boten, spielten aber eine mindestens genauso
wichtige Rolle, und waren zusammengenommen wohl die ausschlaggebenden. Die Mitglieder
von Otpor und andere lokale AktivistInnen sind überzeugt, dass auch ohne diese externe
Unterstützung Milosevic gestürzt worden wäre, und dass es der lokale Widerstand war,
der den Ausschlag gab. Ungleich 1996-97 hatte die Bewegung eine klare und einmütige
Strategie, und involvierte bewusst viele Teile der Gesellschaft in die Protestbewegung. Keines
der beiden Faktoren spielte in den früheren Jahren eine Rolle.
[Ende Exkurs „Sturz von Milosevic“]
Deutlich wird an den Beispielen, die bei Clark (Hrsg) genannt werden, welche Bedeutung
transnationale Solidarität für viele Bewegungen hatte und hat, und dass dieses Thema nicht
auf „wer finanziert eine Bewegung“ beschränkt werden kann.Bei den Friedensgemeinden,
die sich aus einem Krieg heraushielten, skizzieren die AutorInnen folgendes Bild: Auf der einen
Seite wurde der Konflikt oft auf die Kolonialzeit und internationale Einflüsse zurückgeführt.
Auf der anderen Seite machte man positive Erfahrungen mit Schutzbegleitung, schützender
Präsenz und materieller Unterstützung.
_ _ _ _
54 Siehe Nenadic, Danijela and Belcevic, Nenad (2006). From Social Movement To Political Organisation:
The Case of Otpor. Presentation at the URTF (Unarmed Resistance: the Transnational
Factor) seminar July 2006. online] available from
55 Das Center for Civic Initiatives in Belgrade übersetzte Gene Sharps Buch From Dictatorship to Democracy und verteilte 5.500 Kopien. = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = Es mag aber auch Situationen geben, in denen die Involvierung dritter Parteien unbedingt erforderlich ist. Dies gilt besonders für solche, wo die lokale Bevölkerung kaum Einflussmöglichkeiten auf die Gegenseite hat, weil diese von ihrer Kooperation nicht oder überhaupt nicht abhängig ist. (Beispiel: Ein Überfall auf ein Land, um es zu besiedeln oder seine Rohstoffe auszubeuten.) Hier kann eine externe Partei, die dem Aggressor näher steht als der Angegriffene selbst, seinen Einfluss geltend machen. Der Friedensforscher Johan Galtung hat diesen Mechanismus die „große Kette der Gewaltfreiheit“ genannt.56 _ _ _ _ 56 Johan Galtung (1989) in: Nonviolence and Israel/Palestine, Honolulu:University of Hawaii Institute for Peace. = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = 8. Bewertung Die vorgestellten neuen Studien bestätigen in vielen Fällen das, was schon in früheren Publikationen zu Sozialer Verteidigung, basierend auf der kleinen Anzahl von Fallbeispielen, vermutet und empfohlen wurde – die Bedeutung des Entziehens von Kooperation, von entschlossenem Festhalten an der Gewaltlosigkeit auch angesichts massiver Repression, eher dezentrale Führungsstrukturen von Widerstand sind hier besonders zu nennen. In ein paar anderen Punkten gehen sie deutlich über das hinaus und tragen neue Erkenntnisse darüber bei, wie gewaltloser oder ziviler Widerstand „funktioniert“ – etwa die zentrale Wichtigkeit des ‚Überlaufens‘ von Sicherheitskräften oder die Zwiespältigkeit internationaler Unterstützung. Die vorgestellten Studien sollten nicht so interpretiert werden, dass mit ihnen schon alles gesagt worden wäre, was es zum Thema ziviler Widerstand zu sagen gebe. Im Gegenteil – sie sollten eher als der Anfang einer noch bevorstehenden, weitergehenden auch wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Phänomen angesehen werden. Viele Fragen sind bislang kaum oder garnicht untersucht worden. Dazu gehören längerfristige Verläufe von Widerstandsbewegungen, die über das Kriterium Erfolg oder Misserfolg einzelner, kurzfristiger Kampagnen hinausgehen. Dazu gehört die Frage der Rolle von Gewalt und Gewaltlosigkeit – die Untersuchung von Dudouet deutet an, dass die Beziehungen hier komplexer sein dürften, als sie sich darstellen, wenn Bewegungen in nur zwei Kategorien, gewaltlose und gewaltvolle unterteilt werden. Dazu gehört des Weiteren die Frage, wie Menschen mobilisiert werden, und wie es konkret zum Überlaufen oder Nachgeben von Sicherheitskräften oder PolitikerInnen kommt.57 _ _ _ _ 57 Martin Arnold (2011) hat in seiner Dissertation zum Thema Gütekraft“ Aussagen dazu getroffen, wie bestimmte Führungspersönlichkeiten der gewaltfreien Bewegungen die Wirkung von gewaltlosem Widerstand erklärten. Sie – wie auch viele andere gewaltfreie AktivistInnen – beschreiben einen Mechanismus der plötzlichen Einsicht bzw. des Perspektivenwechsels. Empirische Untersuchungen hierzu liegen aber bislang nicht vor. = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = Literatur Ackerman, Peter and DuVall, Jack (2002) Strategic Nonviolent Conflict: Lessons from the Past, Ideas for the Future. USIP Special Report; United States Institute of Peace. https://www.usip.org/sites/default/files/sr87.pdf Anderson, Mary B. und Wallace, Marshall (2013) Opting Out of War. Strategies to Prevent Violent Conflict. Boulder/London: Lynne Rienner Publishers Arnold, Martin (2011) Gütekraft. Ein Wirkungsmodel aktiver Gewaltfreiheit nach Hildegard Goss- Mayr, Mohandas K. Gandhi nd Bart de Ligt. Baden-Baden: Nomos Ash, Timothy Garton (2011) ‘A Century of Civil Resistance. Some Lessons and Questions’, in: Roberts & Ash (Hrsg.) (20112): 371 ff Bartkowski, Maciej J. (Hrsg.) (2013) Recovering Nonviolent History. Civil Resistance in Liberation Struggles. 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